Dem Nachbar seine Nachbarn

»Hans-Heinrich, sie sind schon wieder da!«, ruft Gerda aus dem Wohnzimmer. »Was, so früh schon?« – »Ja, sie laufen durch den Vorgarten – hörst du sie nicht rufen?« – »Doch doch, ich komme schon« sage ich und bringe die Kaffeekanne aus der Küche mit, als ich zu Gerda ins Wohnzimmer gehe. Meine Frau und ich sammeln Sonntage. Mit zunehmendem Alter, allerspätestens zur Rente, schleichen sie sich in den Alltag, übernehmen die Regie über ein paar Stunden des Tages, ein paar Tage der Woche: die Hobbys. Manche sammeln Briefmarken, der Nachbar Schmidt züchtet Kois und Hecken; Roswitha Lührs aus dem Parterre sammelt Tortenrezepte und Hüftgold; mein Schwager beobachtet seit der Rente Vögel und nennt das Ornithologie. Uns hat es auch erwischt, denn wir machen von alldem ein klein wenig. Und wir sammeln Sonntage. Immer wenn sich an einem Freitagnachmittag so etwa fünf bis fünfzig unserer wanderwilligen Nachbarn zu Fuß oder mit dem Bus zum Wochenendausflug aufmachen, ist es Zeit für unser Hobby. Dann backt Gerda Kuchen und ich schiebe Tisch und Stühle näher ans Fenster. Ist es dann Sonntag, sitzen wir bereit, schlürfen Kaffee und warten auf die ersten Zeichen der heimkehrenden Rasselbande von gegenüber. So geht es durchs Jahr; dicke Jacken und Mützen im Winter, kurze Hosen und Pflaster auf den Knien im Sommer. Die Kleinen werden größer, kriegen andersfarbige Tücher und manche stehen Jahre später als Eltern auf dem Bürgersteig und warten wie wir auf die Wanderer und Abenteurer. Spannender als Vögel beobachten ist das doch allemal!

Heute ist wieder so ein Hobby-Sonntag und wir sitzen wie gewohnt um drei Uhr am gedeckten Kaffeetisch im Wohnzimmer und schauen aus dem Fenster. Unser Goldfisch Günther dreht dazu wie gewohnt Runden in seinem Glas. Heute scheint aber auch er beinahe sehnsüchtig aus dem Fenster zu schauen, denn es schüttet. Es schüttet so sehr, dass kleine Bäche über die Straße fließen und in den Gulli gurgeln. Die Kois in Schmidts Gartenteich scheinen sich vor lauter Wasser auf den Grund des Teiches zurückgezogen zu haben. Und durch all den Regen rennen sie, die Fieselschweifs. Der Schlamm spritzt von ihren Wanderschuhen, als sie prustend und rufend Kisten in ihr Heim, Rucksäcke in Autos und die Kleinen zu ihren Eltern bugsieren, die ihre Sprösslinge mit spitzen Fingern und mit Regenschirm in der Hand vorsichtig umarmen. So schnell wie sie gekommen sind, sind sie heute auch wieder weg. In Minutenschnelle leeren sich unser Vorgarten, der Bürgersteig und die Straße wieder, und auch das Pfadfinderheim liegt, bis auf eine vergessene Isomatte, wieder verlassen da. »Das ging heute aber schnell«, sagt Gerda, beinahe ein bisschen enttäuscht, bevor sie fortfährt: »Na, ich hatte ja Freitag schon in den Knochen, dass sie dieses Wochenende nass werden. Wird halt Herbst.« Ich seufze zustimmend. »Vielleicht noch ein Stückchen Kuchen?« – »Ja, gerne«. Abends beim Müllwegbringen treffe ich vorm Haus Roswithas kleinen Benni, der in der Garage ein großes tropfendes Etwas ausbreitet. »Was machst du denn da?«, frage ich ihn. »Ich hänge eine Plane auf, sieht man doch! Das ist eine Juuate. Die ist von meinem Hobby!«, erklärt Benni mit ernster Kennermiene. »So so!«, antworte ich und denke im Stillen: »Komisches Hobby«.

Online ist dir nicht retro genug? Kein Problem, du findest den Artikel auch im haddak 2/2010 auf Seite 40.

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