Sonntagmorgen nach dem Busife. Nach dem Frühstück stellten sich das Verabschieden und der beliebte Smalltalk ein. Dabei wurde natürlich auch noch der Singewettstreit des gestrigen Tages durchgespielt. Bei dem eigentlich halbernsten Geplänkel ging mir jedoch diesmal eine Äußerung nicht aus dem Kopf: »Ihr seid mir unheimlich. Ab jetzt seid ihr für mich nur noch der Roboter-Stamm. Ihr singt so synchron, als ob man euch allen einen Chip implantiert hätte.« Das hörte sich lustig und nach Science-Fiction-Experimenten an, die wir vor dem Busife in unserem Stamm betrieben haben könnten. Hatten wir aber ganz bestimmt nicht! Dass dieser Auftritt das Ergebnis von vielen Treffen, Proben und Blasen an den Fingern war, zeigt ein Blick acht Monate zurück.
1. November 2008, Jahresplanungsfahrt
Draußen wurde es allmählich kühl und ungemütlich. Das alte Jahr neigte sich langsam dem Ende zu und wir saßen bei Tee, Obst und Waffeln zusammen und planten unser nächstes Fahrtenjahr. Wie immer stand da bei den Aktionen das Bundessingefest und blickte uns freundlich und einladend an. Natürlich wollten wir teilnehmen, das war schnell klar. In welchem Rahmen, wurde gefragt. Wir fahren mit dem ganzen Stamm hin, das ist ja schon Tradition geworden, hieß es. Singen wir denn mit dem Stamm? – Also, wenn wir mit dem ganzen Stamm hinfahren, wollen wir auch singen! – Was ist denn, wenn wir keine Lieder finden? – Okay, dann lasst uns eine Deadline setzen. Wir singen nur, wenn wir rechtzeitig Lieder finden! Wir einigten uns schnell darauf, dass wir im Januar beide Lieder gefunden haben müssten, damit wir in unseren Stammessingerunden noch genug Luft zum Üben hätten. Denn einmal im Monat von Januar bis Juni, so rechneten wir, wären ja eigentlich nur sechs Proben, mit Generalprobe sieben. Außerdem lag Pfingsten in diesem Jahr vor dem Singefest, da würden wir auch noch üben. So war das Thema schnell vom Tisch und das Singefest rückte in unseren Gedanken in weite Ferne. Es war ja noch viel Zeit.
10. Januar 2009, Stammessingerunde
Kurz nach der Winterfahrt trafen wir uns zum ersten Mal, um unsere beiden Lieder, die wir bis dahin ausgewählt hatten, mit allen kennenzulernen und zum ersten Mal zu singen. Eine schöne Vorstellung. Leider hatten wir aber noch keine Lieder gefunden, die uns geeignet erschienen. Wir hatten eine schöne Singerunde, nur leider ohne Busife-Lieder! Die Deadline hatten wir damit natürlich über den Haufen geworfen. Wir einigten uns darauf, dass wir alle noch einmal die Musikwelt durchforsten wollten: Internet, alte Liederbücher, neue Liederbücher, CDs, Kassetten, Schallplatten, Speicher – keine Möglichkeit sollte ausgelassen werden, um doch noch neue Lieder zu entdecken, die zu uns passten und die wir dem Bund vorstellen wollten.
Ihr seid mir unheimlich. Ab jetzt seid ihr für mich nur noch der Roboter-Stamm. Ihr singt so synchron …
9. Mai 2009, Stammessingerunde
Noch sechs Wochen bis zum Singefest. Draußen wurde es Sommer, wir wurden nervös und das Glück half uns weiter! Wir hatten ein deutsches Lied gefunden, das wir singen wollten: »Sie werden kommen« vom Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel sollte es sein. Wir setzten das Lied in eine für uns angenehme Tonart, bastelten Liedzettel für alle und konnten endlich loslegen! Zuerst mussten wir Text und Melodie lernen. Um die Betonungen und den Rhythmus zu lernen, sprachen wir das Lied zusammen im Chor. Damit sammelten wir außerdem schon Hinweise darauf, wie wir das Lied gestalten wollten und kamen schnell darauf, dass wir vieles über Lautstärke und Sprechen transportieren konnten. Und dann kam es Schlag auf Schlag: Welche Instrumente sollten wir wie benutzen? Wann singen wir lauter, wann leiser? Alle diese Fragen wollten wir durch Ausprobieren mehrerer Versionen beantworten, doch hatten wir an diesem Tag keine Zeit mehr…
Pfingstfahrt, 31. Mai 2009
Nach einem Hajk bei schönstem Wetter an der holländischen Grenze trafen wir uns zu unserem Pfingstlager, bei dem wir einige Stunden für die Proben nutzen wollten. Auf dem Lagerplatz stand ein alter Bootsschuppen, den wir als Bühne benutzen konnten. Wie es schon Tradition geworden war, sangen zuerst die Sippen und die Meute die Lieder, die sie gelernt hatten, dem Stamm vor. Nachdem die Auftritte genug bewundert und gelobt worden waren, konnten die Gruppen noch tausend gute Ratschläge entgegennehmen. Dann kam die Stammesprobe. Wir hatten uns nun auch für ein zweites Lied entschieden, ein afrikanisches. Über das deutsche Lied machten wir uns weniger Sorgen. Viele kannten den Text schon auswendig und die Melodie war recht einfach, schwieriger war dagegen unsere erste Probe für »Nkosi Sikelel’ i Afrika«. Wir hatten keine Liederzettel vorbereitet, daher schrieben wir den Text auf eine große Tapete. Mit Vorsprechen und Nachsprechen, Klatschen und ersten Melodieversuchen konnten wir den ersten Teil des Liedes recht schnell singen. So ging der Nachmittag dem Ende zu und wir ließen uns treiben zwischen Abendessen und Singerunde, bis auch unser Pfingstlager schon wieder fast vorbei war.
Nur noch eine Stammesprobe. Das konnten wir niemals schaffen!
Beim letzten Frühstück fiel uns dann auf, dass in unserem Probenplan nur noch eine Stammesprobe stand – unsere Generalprobe! Das konnten wir niemals schaffen, also machten wir kurzen Prozess und legten noch drei weitere Stammesproben fest. Wir schrieben in größter Eile einen Zettel für die Eltern, kopierten ihn zwischen unserer Ankunft am Heim und dem Abschlusskreis im Stammesraum und hatten uns so noch einen Puffer zwischen Pfingsten und Busife geschaffen.
24. Juni 2009, Generalprobe
Es wurde schnell warm in diesem Jahr und wir saßen auf der Wiese im Volkspark bei unserer letzten Probe vor dem Singefest. Das deutsche Lied war inzwischen mit der Untermalung der Gitarren, mit Cajon, Geigen und Bassstimme eine runde Sache geworden, so gut, dass sich eine leichte Euphorie breit machte. Die Vorfreude auf den Auftritt stieg deutlich an, gemeinsam mit der Nervosität, die von Tag zu Tag, von Probe zu Probe zunahm und allen anzusehen war. Wir waren aufgeregt, umso mehr noch deshalb, weil das afrikanische Lied einfach noch nicht gut klang. Eine zweite Stimme wollten wir schon lange eingebaut haben und auch die Instrumentierung war noch unklar. Wir entschieden uns gegen eine A-Capella-Version und für Gitarren. Der Kontrabass sollte die Grundtöne mitstreichen, was zum getragenen Charakter passte. Text, Melodie, Ablauf und Rhythmus waren kein Problem mehr, die meisten konnten das Lied auswendig. Eigentlich fehlte nur noch der letzte Schliff – der aber meist so wichtig ist. Dieser kam in Form einer zweiten Stimme, leider aber erst nach der Probe. Wir setzten uns also noch etwas ins Gras und lernten mit den Älteren die Stimme so weit, bis wir glaubten, im Stamm nicht mehr unterzugehen. Den Rest wollten wir dann morgens auf dem Busife proben.
27. Juni 2009, Bundessingefest
Nervosität hatte sich endgültig breit gemacht, letzte Entscheidungen waren gefällt worden und wir hatten am Morgen noch einige Male unsere Lieder geprobt, bis wir alle der Meinung waren, dass die Bühne kommen konnte und wir eine Pause und das Mittagessen verdient hätten. Am Hüpfen und an den erregten Gesprächen untereinander sah man allen die Aufregung an, die uns auf dem Singefest in jedem Jahr wieder begleitet, die wir aber auch nicht verbergen wollen, weil sie einfach dazugehört.
Wir trafen uns vor der Jurtenburg, wie verabredet. Der Singewettstreit hatte begonnen und wir stellten uns möglichst leise neben die Jurte, während der letzte Stamm vor uns sang, um gemeinsam hineinzugehen. So nervös wie wir waren, traten wir auf die Bühne. Und jetzt gab es kein Zurück mehr. Die ersten Töne kamen, alle fanden sich ein und dann lief es. Wir sangen und der Funke sprang bei uns über. Wir sangen gemeinsam und alle waren voll dabei. Dieses Erlebnis wollten wir nicht mehr missen. Wir liefen von der Bühne und waren mindestens genauso aufgeregt wie zuvor, waren uns aber einig, dass das Gefühl des Moments, mit dem ganzen Stamm auf der Bühne zu stehen und zu singen, für uns der Hammer ist.
Das Singefest – ein Höhepunkt des Jahres, ein Adrenalinkick und dabei prägend für das Gemeinschaftsgefühl im Stamm. Die Proben sind sicherlich nicht wenig stressig und oft natürlich auch chaotisch. Klar haben wir viel Zeit und Arbeit hineingesteckt. Es lohnt sich aber. Klar, der Wettstreitcharakter ist da und lässt sich nicht zerreden, er liegt ja schließlich in der Natur eines Singewettstreits. Und es auch wäre es gelogen, dass niemand durch ihn einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, was den Auftritt angeht. Es war aber auch nie ein Weltuntergang, wenn’s mal nicht so klappte, wie gedacht. Das gehörte schon immer dazu. Man tut sich schwer, das Gefühl des Moments in der Gemeinschaft annähernd angemessen zu beschreiben, ich will die Freude, die damit verbunden ist, aber immer wieder erleben.
Mitreden!