In einer kalten Winternacht machten sich 80 mutige Pfadfinderinnen und Pfadfinder aus ganz Deutschland auf den Weg nach Martinfeld (bei Eschwege), um sich ein Wochenende lang mit einer vermeintlich ganz unpfadfinderischen Sache auseinanderzusetzen – unserem Wirtschaftssystem. Die politische Bildungsveranstaltung des Deutschen Pfadfinderverbands e.V. – das »Rotenburger Seminar« – diesmal unter dem Motto »Vom Pfadfinder zum Kapitalisten« wollte die Teilnehmer jedoch nicht zu Kapitalisten bekehren, sondern vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit und einen offenen Dialog zum vorherrschenden Wirtschaftssystem fördern. Die »Rotenburger Börse« siedelte vom 18.-20. Januar 2013 im Schloss Martinfeld und verwandelte das Schloss vorübergehend zum wirtschaftlichen Zentrum der Macht. Die Occupy- Aktivisten, die noch am Freitagabend die Börse mit Teekocher und Iglu-Zelt besetzt hielten, gaben bereits am Samstag ihren Protest auf.
Dann werden schnell ganze Berufsbilder unter Generalverdacht gestellt, gierig nach Geld zu sein.
Die letzten Jahre waren geprägt von Begriffen wie Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Bankenrettung und Eurokrise. Astronomische Geldsummen gingen durch die Medien, unter denen sich eigentlich keiner wirklich etwas vorstellen kann. Vor allem aber können sich die wenigsten Menschen überhaupt vorstellen, was hinter den Kulissen der Banken, Börsen und Unternehmen so vor sich geht. Auch wenn die Wirtschaft uns täglich umgibt, machen wir uns doch wenig bewusste Gedanken darüber, was dort eigentlich abläuft. Dann werden schnell ganze Berufsbilder unter Generalverdacht gestellt, gierig nach Geld zu sein. Und weil das moralisch verwerflich ist, sind alle Banker und Investoren erklärte Feinde des Gutbürgers. Andere denken vielleicht, dass die Banker auch nur Opfer eines Systems sind und nur aus den Regeln dieses Systems einen großen Nutzen ziehen. Also ist das System böse. Unsere Wirtschaft handelt nach kapitalistischen Regeln, Gewinnmaximierung ist häufig nicht nur Mittel, sondern Zweck eines Unternehmens. Doch was ist eigentlich Kapitalismus? Wo liegt die Abgrenzung zur Markwirtschaft? Wie funktioniert die Börse und ist es in einem solchen System überhaupt möglich, Werte, wie sie die Pfadfinder vertreten, umzusetzen? »»Ist es in einem solchen System überhaupt möglich, Werte, wie sie die Pfadfinder vertreten, umzusetzen?
Der Freitagabend wurde mit einem »Kapitalisten-Check« eröffnet, bei dem die Teilnehmer verschiedene Fragen hinsichtlich ihrer kapitalistischen Werte für sich beantworten sollten. Dabei konnten die Teilnehmer auch untereinander die Einstellungen der anderen beobachten. Das Ergebnis war bunt gemischt, klare Tendenzen der gesamten Gruppe waren nicht erkennbar.
Anschließend begrüßten zwei prominente Gäste von der Frankfurter Börse die Teilnehmer mit einem kleinen Sketch: Bulle und Bär trafen sich zu einem Plausch, sie tauschten sich über Aktien und Bonds aus und stritten über die richtige Anlagestrategie. Doch der arrogante Bulle musste schließlich zusehen, wie die »fette Dividende« diesmal an den Bären ging.
Aus den Teilnehmern waren über Nacht Investoren, Unternehmer und Berater geworden.
Am Samstagmorgen waren plötzlich alle Pfadfinder verschwunden. Aus den Teilnehmern waren über Nacht Investoren, Unternehmer und Berater geworden. Das »who-is-who« der Deutschen Investoren und Unternehmenslandschaft hatte sich damit zusammengefunden. Neben Allianz Global Investors oder dem Deka Investmentfonds waren Siemens, BMW oder die Lufthansa vertreten. Insgesamt gab es 6 Investoren und 16 Unternehmen, wobei jeweils zwei Unternehmen immer in direkter Konkurrenz zueinander standen. Jetzt zählte, dass die Krawatte saß und das Kostüm passte. Denn auch auf dem Börsenparkett gilt: Kleider machen Leute! Oder aber: Mehr Schein als Sein?!
Das Börsenparkett war im Kellergewölbe des Schlosses ausgelegt, dort hatte jede Gruppe einen eigenen Arbeitsplatz. Die Börsenkurse der Unternehmen wurden in Echtzeit an die Wand projiziert und die aktuellen Nachrichten wurden in regelmäßigen Abständen per Video übertragen. Im Grunde war alles, wie in der realen Welt. Der einzige Unterschied war, dass ein Jahr nur 30 Minuten dauerte. In dieser Zeit mussten die Unternehmen Investoren auftreiben, um zum Beispiel neue Produktionsanlagen zu finanzieren. Die Investoren mussten sich überlegen, ob und an wen sie Anleihen ausgaben oder welche Aktien sie kaufen wollten. Die Berater standen allen zur Verfügung, um Tipps zum Spiel oder Insider-Informationen feilzubieten oder um Unternehmen aus ihrer wirtschaftlichen Schieflage herauszuhelfen. Die Unternehmen mussten ihre Planzahlen dem Realwirtschafts-Tool geben, damit dort »der Markt« die Geschäftsergebnisse berechnen konnte. Außerdem gab es noch eine Bank, bei der Gewinne, Verluste und sonstige Ausgaben und Einnahmen verbucht werden mussten. Jedes Geschäftsjahr endete mit einer Hauptversammlung der Unternehmen, bei der über die Gewinnverwendung entschieden wurde. Die Presse war derweil nicht müde, um die wichtigsten Nachrichten und in ihren Extraausgaben Interviews und Marktanalysen zu senden. So mancher Skandal wurde dabei aufgedeckt.
Nach mehreren Spielrunden waren am Abend alle Beteiligten müde, aber auch zufrieden. Besonders glücklich waren die Gruppen, die nach dem Links: Bär, Devise, Bulle Rechts: »Business- Scouts« Abendessen noch eine der begehrten Urkunden erhielten. Ausgezeichnet wurden Unternehmen u.a. in den Kategorien »Abräumer« (höchster Gewinn), »ÖstroAG« (weiblichster Vorstand) oder »Pfennigfuchser« (meiste erreichte Billigkäufer) und Investoren u.a. in den Kategorien »Alles muss raus« (höchste Investitionsbereitschaft), oder »Ups« (am besten ausgebügelte Fehlinvestition). Die Urkunden beinhalteten jeweils eine maßgeschneiderte Lobrede auf die jeweilige Gruppe und wurden unter frenetischem Jubel überreicht. Anschließend wandelten sich die Wirtschaftsakteure wieder in Pfadfinder um, legten das Konkurrenzdenken ab und genossen einen erholsamen Abend am Lagerfeuer in der Jurte mit Liedern, Tschai und Keksen.
Der Sonntag stand ganz im Zeichen der Reflektion. Diskussionen in Kleingruppen sollten zunächst das Planspiel des Vortages Revue passieren lassen. Die Teilnehmer gaben an, dass sie gar nicht genau twussten, was sie eigentlich im Spiel machen sollten und dass die Berater teilweise falsche Tipps gaben. Aber war das nicht sehr realistisch?
Schließlich fanden sich alle mit vielen Gedanken und Fragen zu einer Podiumsdiskussion zusammen, bei der zwei Podianten und ein Moderator über die Zukunft des Kapitalismus debattierten. Oliver Schumacher, ehemaliger Vorstand des DPV und Unternehmensberater, leitete die Diskussion. Rüdiger Jungbluth, Wirtschaftsredakteur der Wochenzeitung »Die Zeit«, vertrat die Einstellungen eines Realisten, der meint, der Kapitalismus wird noch lange das dominierende System bleiben. Dr. Daniel Dahm, Zukunftsforscher und Nachhaltigkeitsexperte, ist dagegen überzeugter Visionär und meint, dass das kapitalistische System bald durch ein anderes System ersetzt werden würde. Zusätzlich zu den drei Hauptakteuren gab es auch einen freien Stuhl auf der Bühne, der für das Publikum bestimmt war. Wann immer jemand eine Frage oder eine Anmerkung hatte, konnten er oder sie sich auf den Stuhl setzen und mitdiskutieren. Nach anfänglicher Zurückhaltung wurde der »heiße Stuhl« dann rege genutzt und am Ende konnten gar nicht mehr alle Fragen beantwortet werden, weil die Zeit zu knapp war. Insgesamt konnte die Podiumsdiskussion aber viele Gedanken aufgreifen, die im Laufe des Wochenendes aufgekommen waren.
Mit zufriedenen Gesichtern und mit einem gewissen Schlafdefizit machten sich dann alle wieder durch die Winterlandschaft auf den Heimweg. Es war ein schöner Ausflug in eine Welt, die man sonst selten in der Form erlebt. Viele Teilnehmer wünschten sich, so ein Seminar möglichst bald zu wiederholen – mit einem anderen Thema.
Info:
Das Rotenburger Seminar Mit dem Rotenburger Seminar nimmt der DPV seinen politischen Bildungsauftrag wahr und bietet jungen Erwachsenen die Möglichkeit, außerhalb ihrer regulären Pfadfinderaktivitäten einmal über den Tellerrand hinaus zu gucken und sich mit politischen Themen zu beschäftigen, die aktuell relevant für die Gesellschaft sind. Das Seminar findet in unregelmäßigem Abstand von 3-5 Jahren statt, das vorletzte Seminar fand 2010 zum Thema Ökologie und Klimawandel statt. Dabei wurde versucht, unter 7 Parteien einen Weltklimavertrag auszuhandeln. Wer Lust hat, an der Planung und Gestaltung eines nächsten solchen Seminars mitzuwirken, meldet sich bitte beim Vorstand. Mitstreiter und Ideen sind herzlich willkommen.
Mitreden!