»Evim, evin, evi, evimiz, eviniz, evleri…« So geht das schon seit zwanzig Minuten. Es ist die erste Stunde des härtesten Sprachkurses meines bisherigen Lebens und wir drillen das Possessivsuffix. Außer mir sitzen noch sieben weitere Menschen in dem kleinen Projektraum des Landessprachinstituts NRW in Bochum und blättern nervös durch das Lehrbuch der ersten fünf Tage. Es hat den Durchmesser eines ernstzunehmenden Kochbuchs, aber viel mehr Text. Es wird eine lange Woche.
Türkisch ist momentan nicht gerade hip. Macchiato-Mütter schicken ihre Kleinen lieber in Kindergärten und Grundschulen, wo stattdessen Englisch, Chinesisch oder Russisch auf dem Stundenplan steht. Der Grund ist klar: Die Sprache soll später einmal mehr sein, als nur ein Mittel zur Kommunikation. Sie soll auf dem Lebenslauf gut aussehen und beim Vorstellungsgespräch den entscheidenden Vorteil gegenüber der Konkurrenz bieten. In diesem knallharten Wettbewerb der Lebenslaufoptimierung haben halbgare Spaßsprachen nichts verloren. Nur die Harten kommen in den Garten.
Dass Sprachen aber nicht nur Türen zu tollen Karrieren, sondern auch und vor allem zu anderen Kulturen öffnen, wird dabei gerne vergessen. Wer mal im Ausland auf Fahrt war, hat meist erlebt, was für ein Feuerwerk der Gastfreundschaft ein paar Brocken Rumänisch, Griechisch oder Schwedisch entzünden können.
Es ist weniger Trinken aus dem Feuerwehrschlauch und mehr Wassertreten als Nichtschwimmer im tiefen Becken bei hohem Wellengang.
Türkisch eben auch. Und deshalb sitze ich bis abends um zehn vor meinem Schreibtisch im Gästewohnheim der Uni und lerne Vokabeln. Wer bei Null beginnt, muss ranklotzen, sonst fehlt für den nächsten Tag der Kontext. Es ist weniger Trinken aus dem Feuerwehrschlauch und mehr Wassertreten als Nichtschwimmer im tiefen Becken bei hohem Wellengang. Sink or swim. Do or die. Durchhalten oder Untergehen. Ich habe seit der Uni nicht mehr so viel Spaß gehabt.
Dabei geht es uns im Grunde genommen noch ganz gut. Die meisten Jugendlichen verlassen ihre Schulen mit mindestens einer funktionierenden Fremdsprache. Meist ist es Englisch, Französisch oder Spanisch. Solide Weltsprachen, mit denen man in vielen Ecken der Erde die Zeitung lesen, ein Bier bestellen und neue Freunde finden kann. Wer allerdings mal die Sprachvielfalt eines Schweizers, Niederländers oder Belgiers erlebt hat, will mehr.
Woher dann noch die verbreitete Angst vor exotischeren Sprachen kommt, ist mir immer noch nicht ganz klar. »Finnisch? Nee, viiiiel zu schwer«, »Japanisch hat mehrere Alphabete und die Chinesen mit den verschiedenen Tonbedeutungen…«, »Arabisch klingt so aggro…«. Über eine Milliarde Chinesen haben trotz Tonalität und einem umfangreichen Alphabet die Sprache gelernt. Und selbst finnische Kinder können Finnisch! Kein Quatsch! Wie passt das zusammen?
Ich glaube, dass es nicht so sehr die Angst vor der Sprache an sich ist, die viele Menschen vom Lernen abhält. Es ist vielmehr die Angst, zu versagen und den selbst gestellten Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Außerdem ist das Lernen einer neuen Sprache ja viel mehr als nur das Verständnis von Grammatik in Kombination mit langen Vokabellisten. Stattdessen bedeutet es, wenigstens ein kleines bisschen in eine fremde Kultur einzutauchen und die eigene Perspektive zu verschieben. Bei Sprachen, die wie Englisch, Französisch und Spanisch im europäischen Kulturkreis fest verankert sind, ist das natürlich einfacher.
Wer einmal eine fremde Brille angezogen hat, wird sie so schnell nicht mehr los.
Wer einmal eine fremde Brille angezogen hat, wird sie so schnell nicht mehr los. Wo vorher graue Flecken auf der Landkarte und von einer dicken Schicht Klischee gesichtslos gemachte Völker waren, entstehen plötzlich feinere, vielfältigere Bilder der Welt. Hinter den Barrieren der eigenen Sprache und Alltagskultur liegt das eigentliche Abenteuer. Geographisch ist die Welt erschlossen, doch was zählt, sind die menschlichen Verbindungen, die entstehen. Und diese macht Sprache eben möglich.
Zehn Unterrichtstage á sieben Stunden plus Hausaufgaben liegen nun hinter mir. Kann ich jetzt Türkisch? Keine Chance. Trau ich mir zu, eine Bustour nach Anatolien zu machen, ohne dass ich in der Pampa ausgesetzt werde? Aber hallo. Und nicht nur, weil ich Sprachgrundlagen genug habe, um mich mit etwas Vorbereitung verständlich zu machen. Sondern weil ich etwas von dem Leben hinter der Sprache gekostet habe. Weil Sprache Verständnis bedeutet und gegenseitiges Verständnis die Angst vor der Fremde nimmt. Und daraus wächst Freundschaft. Das kann Sprache. Und das ist so viel mehr als eine Zeile im Lebenslauf.
Mitreden!