Alles hat seinen Beginn. Und so wie für viele Menschen am Anfang das Wort, das Licht und auch Gott war, stand am Anfang der Pfadfinderbewegung Sir Robert Baden-Powell, genannt BiPi, ein britischer Kavallerie-Offizier. Der Rest ist bekannt: Ritualhaft kann jeder Pfadfinder dieser Welt die zentralen Punkte der mit BiPi verbundenen Geschichte rezitieren: Geboren 1857 in London, schlechter Schüler, begabter Zeichner, Karriere beim Militär, 1907 das erste Pfadfinderlager auf Brownsea Island, 1908 Veröffentlichung des Buches »Scouting für Boys«, das 1911 von Alexander Lion und Maximilian Bayer ins Deutsche übersetzt wird und 1920 findet dann endlich das erste Jamboree statt – aus einer Idee ist eine weltweite Bewegung geworden. Und ebenso weiß auch der gewissenhafte Pfadfinder von heute sich kritisch mit »seinem« Gründer auseinanderzusetzen: Er war ein Militarist und an kolonialen Kriegen beteiligt, sein Männer- und Frauenbild war eher archaisch und überhaupt ist man wohl ganz froh darüber, ihn nicht als Sippenführer gehabt zu haben.
Im Grunde scheint es, dass BiPi wie ein entfernter Verwandter ist.
Baden-Powell ist unser Gründervater, und deshalb werden wir immer wieder von ihm berichten, sollte uns einer fragen, was denn Pfadfinder seien. Und immer wenn es dann soweit ist und ich von dieser Person mit dem großen Hut zu berichten beginne, dann frage ich mich, was von mir denn nun in dieser Geschichte steckt. Ich habe weder »Scouting für Boys« gelesen, noch habe ich dies vor. Ich beherrsche zwar Dutzende von Waldläuferzeichen, habe sie aber eigentlich nie benutzt. Und mein Verhältnis zum Militär ist eher von gebrochener Natur. Ja, es ist sogar in meinem Stamm und dem größten Teil meines Freundeskreises so, dass der Wehrdienst mehr durch die Frage nach dem »Wie verweigere ich am besten?« thematisiert wird, als dass er eine reale Option wäre.
Im Grunde scheint es, dass BiPi wie ein entfernter Verwandter ist, den man im Stammbaum entdeckt und mit dem man über mehrere Ecken in Beziehung steht, im Grunde aber nur rein intellektuell durch das Wissen, dass er da war; aber eben heute nicht mehr. Sollte ich eine Liste aufstellen, die versucht zu erklären, wie ich zu dem geworden bin, der ich bin, BiPi würde wohl nicht drin vorkommen – die Pfadfinder aber schon.
Aber dennoch. So wie der entfernte Verwandte, den man nicht kennt und den man nach Berichten von regelmäßig stattfindenden Familientreffen auch eigentlich ziemlich unsympathisch findet, hat Mr. Powell eben doch seine Finger in den Zahnrädern meiner Identität. Denn es ist jener Verwandte gewesen, der vor unzähligen Jahren damit begann, dieses Familienfest mit allen seinen kleinen und großen Ritualen zu veranstalten. Zwar ist er mittlerweile tot, trotzdem treffen wir uns aber auch weiterhin. Genauso ist es in meinem Leben als und bei den Pfadfindern. Die Unsichtbarkeit der Selbstverständlich- keiten, wie die Tatsachen, dass wir so komische Hemden tragen, dass wir 10 Regeln haben und dass wir in kleinen Gruppen eine überall ziemlich gleich verlaufende »Karriere« durch ein Stufensystem machen, das alles spannt eine Verbindung zwischen meinem gewordenen Sein und BiPi.
Wollte man böse sein, könnte man jetzt düster vom langen Schatten des Sir Robert Baden-Powell sprechen und die Pfadfinder in die lange Geschichte paramilitärischer Jugenderziehung einordnen. Im Grunde wäre dies aber doch nur die hektische und überambitionierte Gegenreaktion zu der genauso naiven Annahme, dass 100 Jahre Pfadfinderei keinen roten Pfaden besäße und unsere heutige Arbeit vollkommen losgelöst von dieser zu verstehen sei.
Wollte man böse sein, könnte man jetzt düster vom langen Schatten des Sir Robert Baden-Powell sprechen.
Und so liegt die Wahrheit wohl mal wieder im Irgendwo dazwischen. Über 100 Jahre haben Generationen von Pfadfindergruppen die Pfadfinderei gelebt, sie mit Leben gefüllt und sie von Tag zu Tag neu erschaffen. Sie taten das der Gemeinschaft wegen, die sie in ihren Gruppen vorfanden, weil sie das Gefühl hatten sowohl gebraucht zu werden, als auch sich dort entfalten zu können. Und dass sich diese Selbstentfaltung ganz dem Jetzt widmet und das Erleben in den Mittelpunkt des Pfadfinderseins stellt, macht ein Paradox deutlich: ein Erklären unseres Seins und Werdens durch einen rituellen Verweis auf BiPi entbehrt genauso jeglicher Grundlage, wie das Leugnen einer solchen Beziehung – denn es war der alte Mann aus England, der die prinzipielle Gleichheit aller Mitglieder, das Prinzip »Jugend führt Jugend« und die Weltoffenheit den Pfadfindern mit auf den Weg gab. Dass er sich mit Sicherheit aber dennoch im Grabe umdrehen würde, wenn er unser täglich Handeln sehen könnte, umso besser. Und vielleicht sollten wir auch ein wenig damit beginnen, nicht immer allein auf den Anfang zu schauen, wenn wir versuchen, über unsere Geschichte zu reflektieren. In den 100 Jahren sind viele Dinge passiert und endlos viele unsichtbare Selbstverständlichkeiten für unser heutiges Leben hinzugekommen – also endlos viele Sachen, über die es sich nachzudenken lohnt. Und beinah täglich kommen neue hinzu…
Mitreden!