Dem Nachbar seine Nachbarn

Heute Abend wollte ich eigentlich auf meiner Veranda den ersten lauen Frühlingsabend genießen. Pünktlich zum Frühlingsbeginn hatte ich heute dafür gesorgt, dass die Rückkehr der Natur in meinem Garten in geordneten Bahnen verläuft. Nach dem Stutzen, Schneiden, Hochdruckreinigen und Jäten sich bei einem kühlen Krušovice in meinem Komfort-Gartenstuhl zu entspannen – das wär’s gewesen. Stattdessen sitze ich jetzt drin und muss mich mit dem Musikantenstadl begnügen. Denn nebenan, bei den Fieselschweifs, ist seit ein paar Stunden »großes Palaver«. Begonnen hatte alles damit, dass am frühen Abend einige Ältere von denen Tische und Stühle nach draußen geräumt hatten. Ein Vorgang, der mit lautem Poltern und vielen Flüchen verbunden war. Nach und nach trudelten weitere Pfadfinder ein. Allesamt gehörten sie zu den »Führern«, wie die Fieselschweifs ihre Gruppenleiter nennen. Nach einer Stunde waren anscheinend alle da. Noch immer war mir unklar, was das sein sollte, da alle immer noch munter durcheinander redeten. Gerade wollte ich mich wieder den letzten hartnäckigen Moosresten zwischen den Steinplatten widmen, da wurde es drüben plötzlich still. Überrascht lugte ich durch mein Spähloch in der Gartenhecke. Ein Fieselschweif blickte hoffnungsvoll in die Runde, während jeder andere auffällig unauffällig nach unten auf die Tischkante schaute. Erst nach ein paar Minuten wurde mir klar, um was ging: die Versammlung sollte protokolliert werden, aber keiner wollte das Protokoll schreiben. Ich war platt. Ich hätte drauf gewettet, dass die das Wort »Protokoll« nicht mal buchstabieren können. Nach langen Minuten des Schweigens wurde schließlich der Protokollant durch ein Losverfahren bestimmte: man drehte eine Flasche auf dem Tisch. Dann begann ein regelrechter Marathon durch unzählige Tagesordnungspunkte. Noch nie hatte ich eine so lange Liste von verschiedenen Themen gesehen, nicht einmal als wir anno 1988 im hiesigen Kaninchenzüchterverein das Jahrestreffen des Deutschen Kaninchenzüchterereindachverbandes ausgerichtet hatten. Was mir nach bereits zehn Minuten Lauschen auffiel: Von A wie »Abfall wird nicht rausgebracht«, über »K wie Küchenputzplan einhalten« bis »Z wie Zelte sind immer noch nicht repariert« – es wurden vornehmlich Missstände thematisiert. Mir ist ja schon vorher klar gewesen, dass Pfadfinder Gammler und Faulenzer sind, aber das wahre Ausmaß wurde mir jetzt erst deutlich. Vielleicht sollte ich doch noch mal überlegen, Gesundheit-, Jugend- und Ordnungsamt über die Vorgänge bei den Fieselschweifs zu informieren?! Das würde vielleicht meine ganzen Probleme auf einen Schlag lösen. Neben vielen kurzen Punkten und noch mehr längerem Schweigen (wenn für irgendeine Veranstaltung wieder Helfer gesucht werden), gab es auch einige wenige richtige Diskussionen. Sie drehten sich um Themen wie die Farbe der Leiste in der Toilette oder ob der Fernseher im Büro stehen bleiben darf. Die Diskussionen gewannen diejenigen, die lauter, schneller und polemischer ihre Wortattacken führten. Nach drei Stunden (die Steinplatten waren aber auch so was von dreckig) verzog ich mich nach drinnen, während nebenan die Tafelrunde weitergeht. Nur eines ist mir immer noch nicht klar: was haben die pazifistischen Schlaffis von nebenan mit dem Bund zu tun?

Online ist dir nicht retro genug? Kein Problem, du findest den Artikel auch im haddak 1/2010 auf Seite 44.

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