Dem Nachbar seine Nachbarn

Letzte Woche kam ein Brief. Von den Pfadfindern nebenan. Erst wollte ich ihn nicht lesen, aber bei Briefen ist das wie beim Zähneziehen: Immer erst mal raus damit. Dann kann man ja immer noch sehen, ob sich’s gelohnt hat. Also, der Brief: »Sehr geehrter Herr«, begann der da. »Feier… Frühling einsingen… Bitte um Verständnis… «? Unterschrieben war das ganze mit »Barney (Michael)«. Das muss der Chef von dem Laden sein, wenn der Name wirklich Programm ist. Ein dicker, grinsender Kerl mit pinkem Teint inmitten von schreienden Kindern. Nun gut. Feiern wollten sie, ein Fest um den Frühling zu begrüssen. Am Wochenende. Es könnte »etwas lauter werden«. Spontan schwamm mir ein Bild vor Augen wie eine obszöne Mischung aus keltischem Ritual, Maikrawallen und Loveparade. Nur mit weniger nackten Menschen und mehr schlecht sitzenden Uniformhemden. Niemals. Ich würde mich an die Stadt wenden. Polizei, Feuerwehr, Rundfunk! Meine Frau Gerda wollte davon aber nichts hören. Die Jugend brauche Freiräume und so weiter. Klar, aber dann doch bitte freie Räume, wo man sie nicht hören kann. Etwa den Weltraum. Das Versprechen von drei frischen Kuchen und einer Flasche Holunder haben mich dann doch überzeugt. Am Samstag ging es schon los. Was mit Klappern und unnützem rumstehen begann, endete innerhalb einer Stunde in einer Zeltstadt, die einem Erdbebengebiet Ehre gemacht hätte. Eine schwarze Pyramide hinter der nächsten, etwa so einladend wie ein Plumpsklo im Winter. Alles aber nur kleine Satelliten eines riesigen ovalen Camping-Kolosses in der Mitte ihres Pfadigartens. An den Zeltstangen waren auch Seile befestigt, die zum Boden führten. Wahrscheinlich als Fußfallen, damit die Bälger nicht immer so rumlaufen. Kaum standen die Dinger, ergoss sich auch schon eine Flut von Wandersandalen, Caprihosen und Oberlippenbärten die Straße hinab. Die Eltern der Truppe. Während ihre Brut krakeelend durch die Zeltstadt radaute, plumpsten sie erst mal auf schmutzig grünen Plastikplanen um mit den Ausbildern zu schäkern. Wie geht’s mit Kevin? Jan-Pasquale kotzt nicht mehr beim Busfahren? Die Schule beschwert sich, dass Jenni montags immer so nach Rauch riecht. Kann man da was machen? Währenddessen hatte ein Hemdträger bereits den Grill entfacht. Der sah aus, als hätten sie ihn einem phönizischen Moloch-Kult geklaut. Unter dem Ding war so viel Glut, dass ich mich fragte, wann sie endlich eine Jungfrau reinstoßen würden. Statt dessen packten sie zentimeterdicke Steaks drauf. Hinten in einer kleinen Ecke auch ein paar Alibigemüsespiesse und einsam schwitzende Schafskäse. Für die Vegetarier. Das große Fressen zog in den Abend hinein, bis sich alle ums frisch entfachte inquisitorisch anmutende Frühlingsfeuer gesammelt hatten. Einer spielte etwas von Ravi Shankar oder stimmte seine Gitarre, ich bin mir nicht sicher. Mit dem Gesichtsausdrucks eines Hamburger Autonomen, der im Schanzenviertel einen Backstein aufhebt, nahm ein anderer sein Liederbuch in die Hand. Und los ging’s. Wandern, Liebe, Tod. Fernweh, Liebe, Tod. Frauen, Frauen, Krieg, Tod. Umso später, desto dramatischer. Und die Eltern groovtem im Takt und versuchten die Refrains mitzusingen. Beim emotionalen Klimax plärrte irgendwer mit Tränen in den Augen etwas über weiße Dragoner, während er wie eine kaputte Karaokemaschine seine Gitarre schändete. Ich konnte mir das nicht mehr ansehen. Ich wollte gehen, doch da stand plötzlich so ein Fieselschweif vor mir. Ich solle nicht so langweilig am Zaun stehen sondern endlich rüberkommen. Sprach’s und drückte mit ein Horn mit so einem Pfadfindertee in die Hand. Mit vielen Früchten. Die waren ganz lecker, habe mir sogar extra welche nachgeholt. Der Rest ist Schweigen.

Online ist dir nicht retro genug? Kein Problem, du findest den Artikel auch im haddak 1/2011 auf Seite 44.

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