»Was mache ich hier eigentlich?«, ist ein Satz, der mir oft auf Fahrt durch den Kopf geistert. Die Heimat scheint komplett fern und doch hat man immer jemanden dabei, durch den sich die Ferne wie ein kleines Zuhause anfühlt. Auch auf unserer Sommerfahrt ins Friaul gab es solche und solche Momente. Von absoluter Überanstrengung und Grenzerfahrung über ungeplante Pfadfindertreffen in einem friaulischen 20-Seelen-Örtchen bis zur Abkühlung und Entspannung in eiskalten Flüssen und Seen.
Schon der Beginn unserer Sommerfahrt war, wenn ich im Nachhinein ein bisschen darüber nachdenke, sinnbildlich für alles, was darauf folgte: Irgendwie verpeilt, voller Hindernisse und trotzdem wurde alles gut.
In Udine sollte sich unsere vierköpfige Roverrunde treffen, um von dort aus irgendwie in das weniger städtische Meduno zu kommen. Wir starteten einen kläglichen Versuch, dorthin zu trampen, doch keiner hielt an. Busse fuhren auch nicht mehr. Am nächsten Tag fiel uns außerdem auf, dass wir noch nicht einmal die richtige Stadt auf unser Schild geschrieben hatten.
Am Bahnhof schlafen? Nicht besonders schön. Also weiter. Wir schätzten die Himmelsrichtung unseres Zieles ab und liefen in irgendeine Straße rein, die in diese Richtung führen sollte. Die gute Laune ließ zum Glück nicht nach. Irgendwann gerieten wir an einen jungen Mann in einem winzigen quietschgrünen Chevrolet, der Google Maps für uns anschmiss und uns die richtige Richtung zu irgendwelchen Wiesen wies. Nach ein paar Minuten holte er uns ein und fuhr uns zu einem Stadtpark, in dem wir schlafen konnten. Wie durch ein Wunder passten wir alle in sein Auto, das nun bis oben hin mit Rucksäcken gefüllt war.
Den nächsten Vormittag verbrachten wir damit, endlich nach Maniago zu kommen, wo wir direkt ein paar Wildkatzen und Schwarze Löwen trafen. Beginnend in Frisanco brachen wir zu einer extrem heißen und anstrengenden ersten Stunde unseres Hajks auf.
Nun kamen uns die ersten Ausläufer der friaulischen Alpen entgegen. Eine Mischung aus Vorfreude und gesundem Respekt vor der vor uns liegenden Wanderung kam in mir auf. Eine eiskalte Quelle und eine langgezogene Mittagspause verschafften unseren von den Serpentinen ermüdeten Körpern Entspannung. Die Bremsenplage eher weniger. Die gesamte Strecke ging es nun wieder bergab bis nach Bosplans, wo wir in einem Fluss badeten und auf der Wiese eines Pfadfinderheims schliefen. Zufälligerweise war dort gerade eine Heimübernachtung. Da nachts der Höhepunkt des Geländespiels auf der Wiese stattfinden sollte, die wir als unseren Schlafplatz auserkoren hatten, versteckten wir uns noch eine halbe Stunde lang im Busch hinter unseren Isomatten, damit die Kinder keine Angst bekamen.
In Andreis versuchten wir uns mit Essen für die nächsten Tage einzudecken, die Kassiererin im Dorflädchen war allerdings alles andere als amüsiert über ihre leere Brotschublade. Wir wissen bis heute nicht, was sie uns darauf sagen wollte, denn alle Leute im Friaul sprachen selbst nach unserem gebrochenen »Non parlo Italiano.« einfach weiter Italienisch mit uns.
Los ging es also in Richtung des Bergpasses, den wir an diesem Tag erklimmen wollten. Der Weg führte uns nun immer wieder über ein Flussbett. Bis auf den Schweiß blieb zum Glück alle trocken. Es waren noch drei Kilometer bis zum Gipfel. Scheint einfach, wären da nicht die rund tausend Höhenmeter bergauf gewesen, die uns auf dieser Strecke in der italienischen Hitze erwarteten. Kurz nach unserer Pause hörte der Weg plötzlich auf zu existieren und wir liefen nur noch von Wegzeichen zu Wegzeichen, die an irgendwelche Steine gepinselt waren. Der Pass kam auch nach Stunden des Kletterns einfach nicht in Sicht. Oben angelangt blickte uns eine Marienstatue entgegen. Welcher Verrückte hat sich wohl die Arbeit gemacht, das Steinding hier hochzutragen? Im Großen und Ganzen war es wohl nicht verrückter als wir, die das Ganze mit riesigem Gepäck bewältigt hatten. Alle fielen zu Boden und freuten sich schwächlich. Die Aussicht war phänomenal. Unser Wasser war leer.
Es war nun bereits 6 Uhr, sodass wir schnell begannen, die andere Seite des Berges hinabzusteigen. Hier war es viel bewaldeter als auf der anderen Seite und zum Glück auch etwas weniger steil. Alle eingezeichneten Quellen waren ausgetrocknet, sodass wir gezwungen waren, immer weiter bergab zu laufen und immer wieder durch die leeren Flussbetten zu klettern. Wieder gab es keinen Weg, sondern nur gelegentliche Wegzeichen an Bäumen. Der Waldboden war so locker, dass alle paar Minuten wieder ein »Plumps« ertönte, weil jemand auf den Hintern fiel. Um sich nicht schon wieder neu hinstellen zu müssen, rutschten wir längere Streckenabschnitte einfach auf dem Hintern weiter. Die letzten Kräfte wurden gespart. Bei der ersten geraden Fläche, die nach etwa 800 Höhenmetern Abstieg auftauchte, legten wir uns alle auf den Boden. Noch dazu wurde es immer dunkler. Wir wurden uns einig, dass wir keinen Schritt mehr weiterlaufen konnten.
Jens opferte sich und lief ohne Gepäck noch etwas weiter, um eine Quelle zu suchen. Und siehe da, nur 200 Meter weiter gab es einen Fluss, an dem wir unsere Flaschen auffüllen konnten. Wir konnten kaum glauben, wie viel Glück wir doch an diesem Tag hatten. Mit letzter Kraft kochten wir die leckersten Käsenudeln unseres Lebens und schliefen mitten im Wald, natürlich ohne unsere Kohte aufzubauen, ein.
Um acht wurden wir wieder geweckt, aber diesmal von Bergziegen und Rehen, die 50 Meter entfernt im Wald herumrannten und uns anschauten. Uns wurde klar, dass diese Tiere wohl nie Menschen zu Gesicht bekommen und die Natur hier wirklich noch unberührt ist.
Mit schmerzenden Muskeln packten wir zusammen und brachen auf. Wir erreichten endlich festen Boden unter unseren Füßen und der Weg kam uns total luxuriös vor. Mitten im Nirgendwo trafen wir auch einen Typen mit Wohnmobil, der uns nett grüßte. Wir liefen an einem Stausee entlang, in dem man die überfluteten Ruinen eines Dorfes am Grund sah, und an einem riesigen Staudamm vorbei, an dem es 50 Meter in die Tiefe bis zum See ging. Dann weiter die Serpentinen hinunter verließen unsere geschundenen Muskeln so langsam die Kräfte und wir sackten ausgelaugt auf der Straße zusammen. Der Wohnwagen vom Morgen kam vorbei und wir blieben demonstrativ auf der Straße liegen. Der Fahrer zeigte uns den Daumen hoch und forderte uns so quasi zum Trampen auf. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen, stiegen ein und schwitzten die bequemen Polstersitze voll. Der Mann fuhr uns zum nächsten Stausee in den Ort Redona, wo man auch im See baden konnte. Während der Fahrt gaben wir ausgiebig gestikulierend mit unserer Leistung vom letzten Tag an:
»We came over the mountain from Andreis. We hiked. High Mountain.«
»Ooooh Mountain! Strong Strong. Mountain.«
Den folgenden Tag verbrachten wir entspannt am See, bauten uns eine Strandmuschel aus zwei Kohtenplanen, gingen viel schwimmen und nutzten die Gelegenheit, einzukaufen. Am Abend gönnten wir uns eine Pizza aus dem Restaurant in Redona.
Der letzte volle Tag unserer Tour wurde von uns der »Tag der drei Gewässer« getauft. Vor dem Frühstück gingen wir alle erstmal eine Runde im See schwimmen. Von Redona aus ging es danach auf Empfehlung der Sperber zu einem Flussabschnitt mit Wasserfall, an dem man von Klippen springen konnte. Dort wurden wir zu Trendsettern, andere Touris trauten sich auch den großen Felsen runterzuspringen. Nach einer Bräunungssession ging es weiter zu einem anderen Fluss. Der Weg dorthin war nochmal sehr anstrengend, denn es ging weitere 300 Höhenmeter hoch und wieder runter, aber das waren wir ja jetzt schon gewohnt. Der Muskelkater vom letzten Berg war zwar schon fast weg, wurde aber jetzt nochmal erneuert.
Im Flussbett trafen wir ein paar Landesritter und Rote Milane. Sofort ging es für uns wieder ins Wasser und wir ließen es uns nicht nehmen, von der Brücke, die über den Fluss führt, ins Wasser zu springen.
Nach langem Trödeln, Baden im Fluss und Sprüngen von der Brücke machten wir uns auf in Richtung Straße, von wo aus wir nach Tramonti di Sopra trampten. Eine Frau nahm uns in ihrem kleinen heißen Auto mit und fuhr uns direkt in die Ortsmitte, wo wir erst einmal das Dorffest besuchten, welches sie uns empfahl. Nachdem wir uns dort die Bäuche vollgeschlagen hatten, machten wir uns auf in Richtung Ringmeutenlager. Am nächsten Tag brachen wir alle zusammen in Richtung Bundeslager auf.
Alles in allem denke ich, dass wir auf unserem Hajk alles mitgenommen haben, was zu so einer richtigen Roverfahrt dazu gehört: Wir haben zusammen alle Probleme gelöst, vor die wir gestellt wurden, haben unsere Grenzen ausgetestet und unser Leben in den Gewässern Norditaliens genossen. Das Friaul wird in meinem Kopf immer mit drei Sachen verbunden sein: Einem extrem anstrengenden Bergaufstieg, entspannte Stunden am Fluss und eine erlebnisreiche Zeit auf dem Lager in Tramonti di Sopra.
Mitreden!