Als mir das Fahrtenplanungsteam mitteilt, kann ich es zunächst gar nicht glauben. Das Standlager unserer letztjährigen Sommerfahrt soll auf Brownsea-Island stattfinden. Diese kleine Insel, deren Namen wohl allen Pfadfindern auf der ganzen Welt bekannt sein dürfte, hat schon während meiner Zeit als Juffi bleibenden Eindruck hinterlassen. So fand doch dort 1907 das erste Pfadfinderlager überhaupt statt, wie ich seiner Zeit als Juffi von meinen Sippenführern lernte. Und nun sollen wir als Stamm aus dem kleinen Köln-Mauenheim die Ursprünge des großen Pfadfinderdaseins erkunden? Ich bin gespannt.
Um meiner mystischen Vorstellung der Insel Brownsea und meiner Spannung nicht zuvorzukommen, recherchiere ich absichtlich im Vorhinein unserer Sommerfahrt nicht im Internet nach ihr. Ich möchte die Insel einfach in natura auf mich wirken lassen. Die unzähligen Vorschriften und äußerst interessanten Reglementierungen des Zeltplatzes auf Brownsea-Island, die wir vor Fahrtantritt erhielten, haben bei mir schon genug Eindruck hinterlassen. »Nun gut, ist ja auch nicht bloß irgendeine Insel«, geht mir durch den Kopf. Während wir im strömenden Regen am Kölner Busbahnhof auf unseren Fernbus warten, sehe ich aber erst mal voller Zuversicht dem bevorstehenden Haik, entlang der englischen Südküste, entgegen.
Nun gut, ist ja auch nicht bloß irgendeine Insel
Nach dem neuntägigen Haik treffen sich alle Haikgruppen wie verabredet an der Fähre in der südenglischen Stadt Poole. Ziel: Brownsea-Island. Schnell entdecken wir eine maßstabsgetreue Statue des Pfadfindergründers BP, die für einige Gruppenfotos herhalten muss. Leicht irritiert von unzähligen Eichhörnchenfähnchen und Emblemen auf der Fähre setzen wir also unter lautem Gesang – zum Leidwesen der anderen Passagiere on board und vor allem der Crew, die uns gleich mit begeistertem Augenrollen begrüßt hatte – nach Brownsea-Island über. Dort werden wir auch gleich von einem Altpfadfinder erwartet und in Empfang genommen. Erstaunt von unserem Haikgepäck ordert jener „Brownsea-Ranger“ einen Van an, um unser Gepäck zu transportieren. Wir können ja unmöglich zu Fuß, ich wiederhole, zu Fuß (!), die weitere Strecke von rund einem Kilometer hin, zum Zeltplatz laufen. Den angenehmen Service billigend in Kauf nehmend verschweigen wir, dass wir knapp 150 km zuvor gehaikt sind, an dieser Stelle nur all zu gerne. »Ob die englischen Pfadfinder überhaupt haiken? «, werde ich gefragt. Ich weiß es nicht. So schlendern wir also nun ganz gelassen über Brownsea. Vorbei an diversen Informationsschildern, warum hier eigentlich so viele Pfadfinder rumhängen, und an unzähligen Fotografen, die scheinbar versteinert in Baumkronen nach roten Eichhörnchen blicken. Huscht eins umher, ist Massenhysterie und purer Enthusiasmus die Folge. Nachher stellt sich heraus, dass auf Brownsea-Island die letzten roten Eichhörnchen Englands leben, nachdem sie von grauen Eichhörnchen größtenteils vertrieben wurden. Für viele Engländer ist es daher ein Erlebnis, rote Eichhörnchen zu sehen und deswegen der einzige Grund nach Brownsea zu fahren. Ich bin erstaunt, wie viele Menschen sich auf der Insel befinden. Neben den Souvenirläden und dem Inselmuseum wird gerade eine Art Manege aufgebaut, in der vermutlich Ritterspiele stattfinden sollen. Für idyllische Pfadfindernostalgie scheint kein Platz zu sein. Vermutlich auch zu kitschig oder naiv von mir erwartet.
Für idyllische Pfadfindernostalgie scheint kein Platz
Unser Gepäck wartet bereits auf dem Zeltplatz auf uns. Nach einer freundlichen Instruktion, was man darf und vor allem was man nicht darf im Naturschutzgebiet, werden auch unsere Kocher mehr oder minder fachmännisch mit Klemmbrett & Co inspiziert. Von unseren Kohten sind alle auf Anhieb äußerst begeistert. Auf dem Zeltplatz, auf dem im Übrigen nur Pfadfinder zelten dürfen, befinden sich neben unseren »strong german black tents« lediglich Plastikzelte à l’Aldi-Style. Die Tatsache, dass wir ohne Stangen auskommend die Kohten an Ästen hochziehen – wenigstens das darf man –, stellt die Ranger vor Rätsel.
Auch der Zeltplatz scheint für viele Touristen eine wahre Attraktion zu sein. Netterweise führt mitten durch den Platz ein Fußweg, der mit einem Zaun gesichert ist. Dieser Zaun ist dieselbe Art von Zaun, die man auch in Streichelzoos oder Naturgehegen findet. Auch wir fühlen uns schnell wie die größte Attraktion im menschlichen Streichelzoo. So bekommen die Eichhörnchentouristen während ihrer gefühlten Safariexpedition auch mal etwas anderes vor die Linse. Juhu! Als Fotoobjekt die ganze Zeit hinhalten zu müssen, hatte ich auch nicht wirklich erwartet. Naja, »Mähste nix«, wie der Kölner sagt.
Erst nach 17 Uhr erscheint es uns lohnenswert unser Gehege zu verlassen, da mittlerweile Ruhe auf der Insel eingekehrt ist. Die letzte Fähre brachte allmählich auch die übrig gebliebenen Eichhörnchentouristen wohlbehütet zurück ans Festland. Brownsea-Island präsentierte sich dann von seiner schönen Seite. Wunderschöne Natur und eine reiche Artenvielfalt. Zeit für einen Spaziergang. Auf den Spuren Baden-Powells erkunden wir die Stelle, an der das erste Lager 1907 stattfand. Zwischen etlichen Plastikzelten deutet ein einfaches Holzschild neben einer kleinen Infotafel auf jenen Ort hin, an dem alles begann. Genau hier? Der blanke Wahnsinn! Ich bin total von den Socken. Nicht! Ich kann es einfach nicht realisieren. Auch der Pfadfinder-Souvenirshop, in dem Kitsch-Herzen höher schlagen, versucht mich zu überzeugen, dass ich tatsächlich an jenem »mystischen« Ort angekommen bin. Brownsea-Halstuch hier, Brownsea-Kugelschreiber dort. Im Gebäude nebenan befinden sich Bilder und Ausstellungsstücke vergangener Tage. Dabei erfahre ich, dass auf der Insel früher eine Töpferei betrieben wurde. Und siehe da: Während unserer Abendwattwanderung am Ufer schneide ich mich mit meinem Fuß an einer alten Tonscherbe. Autsch! Für mich jedoch das einzige – schmerzvolle – Indiz dafür, mich an einem historischen Ort zu befinden. Ich stelle fest, wieder viel zu erwartungsvoll gewesen zu sein. Gedanken wie »Im Endeffekt ist Brownsea-Island doch nur eine Insel wie jede andere.« Oder: »Übertreib mal nicht, Manuel! «, durchqueren meinen Kopf. Schlafenszeit.
Am nächsten Morgen werde ich schlaftrunken von etlichen Pfadfindern geweckt, die an unseren Kohten vorbei gen »BP’s 1907 Camp Site« pilgern. Ich unterhalte mich mit einem Gruppenführer eines DPSG-Stammes: »Hier muss man doch als Pfadfinder einmal hin«. Auch ich bin diesem Gedanken gefolgt. Auf den Spuren der Pfadfinderei. Auch ich find’s stark, mich im Gästebuch zu verewigen und unser Stammeswappen im Pfadfindershop an einer Wand zu pinnen. Auch ich kaufe mir ein Brownsea-Armbändchen. Doch muss man wirklich dorthin pilgern? Vielleicht hätte ich mich vorher einfach genauer über den heutigen Charakter von Brownsea-Island informieren sollen, sodass ich einfach der heutigen Realität folge und nicht in meiner mystischen Glorifizierung verharre.
Auf die Frage hin, ob Brownsea-Island lohnenswert ist, antworte ich: » Ja, auf jeden Fall! Wenn Euch die Gelegenheit bietet, schaut sie Euch an und macht Euch Euer eigenes realistisches (!) Bild.
Mitreden!