Die vielen neuen Eindrücke der ersten Tage noch gar nicht richtig verarbeitet, geht es gleich weiter mit neuen Erkenntnissen und Erlebnissen! Von Tag zu Tag, von Begegnung zu Begegnung, von Erlebnis zu Erlebnis werde ich spüren und sehen wie groß die Unterschiede zum eigenen Land sind.
Tag 4
Heute ist ein besonderer Tag, denn ich soll Gina und ihre Familie persönlich kennenlernen. Gina? Wer ist denn das? Wer die letzten Artikel über das soziale Projekt fleißig gelesen hat, wird wissen, dass die Rene Pedrozo Stiftung auch Patenfamilien vermittelt. Das heißt die ärmsten Familien vor Ort erhalten monatliche Geldspenden von Familien aus Deutschland, sodass deren Kinder zur Schule gehen können und längerfristig die Chance auf ein besseres Leben erhalten. Gina ist das Patenkind meines Stammes. Wir unterstützen sie seit über zehn Jahren. Gina hatte als Baby eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, eine angeborene Fehlbildung der Mundregion. Der Stamm St. Willigis konnte Ginas Familie vor vielen Jahren eine Operation finanzieren. Dort wo damals eine Spalte an der Oberlippe des Mädchens klaffte, sind heute nur noch leichte Narben zu sehen. Und heute soll ich sie treffen! Das Mädchen, das mir vorher nur durch Bilder und Briefe bekannt war. Ich werde ihr in die Augen schauen. Es sind schöne Augen!

Ginas Familie ist ganz aufgeregt mich zu treffen, ebenso fühle ich mich auf dem Weg über holprige Erdwege zu ihrem Wohnviertel. Kommunizieren ist gar nicht so einfach! Ich kann meine vielen Fragen nicht direkt auf Englisch an die Familie richten. Ein Segen, dass Naldy dabei ist, der dolmetscht und meine englischen Fragen auf Tagalog übersetzt und umgekehrt. Ich erfahre, dass Gina vier Schwestern und einen Bruder hat. Die älteste Schwester ist hochschwanger. Die jüngste Schwester ist noch sehr klein, weshalb Ginas Mutter momentan nicht arbeiten kann. Ginas Vater hat keine Schulbildung und keine feste, längerfristige Arbeit. Momentan arbeitet er auf dem Bau. Manchmal auch als Farmer. Alle zusammen leben in einem Haus, das vielleicht 7 m² groß ist. Ein Zimmer. In diesem Zimmer schlafen sie alle zusammen, sie essen, sie verbringen den Tag, sie kochen. Ein Zimmer für alles, für alle! Dieses »Haus« hat keine Türe und keine Fenster. Regnet es nachts, werden sie nass. Einen richtigen Boden hat dieses Haus übrigens auch nicht. Regnet es, stehen sie im Matsch!
Familie Santos ist gerade erst umgezogen, da der letzte Monsun ihr altes Wellblechhaus zerstört hat. Das neue Haus haben sie aus Stein gebaut. Um das Land und das Haus zu kaufen mussten sie ihr Schwein verkaufen und sind jetzt trotzdem verschuldet. Die Familie kocht über offenem Feuer, wäscht Wäsche mit den Händen und mit Wasser aus einem Brunnen. Alles was wir freiwillig und bewusst für kurze Zeit am Wochenende oder im Zeltlager auf uns nehmen, haben sie Tag für Tag. Bis auf das gute Essen und die warmen Schlafsäcke. Das haben sie nicht. Die Nachbarn besitzen einige Hühner und Schweine. Nebeneffekt? Es stinkt scheußlich!
Gina ist reizend und mittlerweile 14. Sie erzählte mir sie möchte gerne Lehrerin werden. Ihr Lieblingsfach ist Mathe. Als ich sie fragte, ob sie einen Boyfriend hat, erzählt sie, dass die Kinder in der Schule oft gemein zu ihr seien und sie mobben wegen ihrer Narbe von der Operation. Aber sie erzählt auch, dass sie sich wehrt und sich nicht unterkriegen lässt!
Nachdem wir nach dem Treffen wieder im Auto sitzen und ich die Eindrücke realisiere, kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Von der Armut zu hören und sie dann real und live zu sehen, den Menschen in die Augen zu schauen und zu begreifen, was dies alles für sie bedeutet, das sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe! Eine weitere Erfahrung, wie ich sie in meinem Leben noch nie gemacht habe und die ich nie wieder vergessen werde! Arme kleine Gina. Dank der Bildung, die sie erfährt, wird sie es irgendwann einmal besser haben!
Tag 5
Heute bin ich mit den Mädels aufgestanden. Frühstück gibt es um 4.00 Uhr morgens. Um Viertel vor sechs fährt der Bus zur Schule. In diesen steige ich heute ausnahmsweise mit ein, denn auch für mich heißt es heute Schulbank drücken. Ich bin gespannt die Schulen und den Alltag der Mädchen kennen zu lernen. Alle sind wieder ganz wuselig und aufgeregt. »Hauptattraktion Marie.« Ich falle überall auf, weil ich so groß und anders bin. Komisches Gefühl, wenn einen ein ganzer Schulhof voll kleiner philippinischer Augen anguckt. Daran werde ich mich nie gewöhnen. Im Unterricht gibt es keine technischen Hilfsmittel, Klassengröße: 45 Schüler. Die Lehrerin kommt zu spät, schminkt sich dann erstmal und hält Schwätzchen. Die nächsten 1 1/2 Stunden malen die Kinder Bilder von Shampoo/ Creme und entwerfen einen Werbespruch auf Englisch (ob ich den Sinn wohl verstehen würde, wenn ich ihre Sprache verstehen würde…?!) ich bin fasziniert über die Arbeitsatmosphäre und Ruhe in der Klasse trotz der Größe.

Nächste Station: Highschool. Die Schule darf ich nur mit Anmeldung bei der Direktorin betreten. Die ist gerade dabei neue Gardinen für ihr Büro auszuwählen. Auffällig? Ihr Büro sieht aus wie ein Thronsaal mit wertvollen Stoffen, Vorhängen und Möbeln, während die Jugendlichen an zerbrochenen, zersplitterten Tischen und auf verbogenen Plastikstühlen sitzen. Unsympathische Frau!
Mir wird ein persönlicher Guide zugeteilt und ich werde, trotz heftigem Widerspruch meinerseits, in jeden einzelnen Klassenraum der Schule geführt. Ich werde jedem einzelnen Lehrer vorgestellt und von jeder einzelnen Klasse persönlich begrüßt, in dem alle aufstehen und im Chor »Good Morning Visitor« sagen (Auch hier habe ich den Sinn noch nicht verstanden). Ich bemerke, dass alles bitten und diskutieren nichts bringt, füge ich mich meinem Schicksal und lasse gefühlte 100 Begrüßungen ganzer Klassen über mich ergehen. Unterricht ist überwiegend auf Englisch. Ich höre etwas über Vulkane, etwas darüber wie die Kleidung eines ordentlichen Philippino auszusehen hat und ich sehe zwei Kurztheaterstücke die ich aber nicht verstehe, da die Schüler Tagalog sprechen. Trotzdem spannend!
Zurück im Waisenhaus heißt es: Spielen, Hausaufgaben, Hausarbeit, flechten, tanzen, singen. Es ist immer und überall etwas los. Die Mädchen sind überaus geschickt mit Flechfrisuren! Ich bekomme jeden Tag eine neue vepasst. Generell werde behandelt wie eine Prinzessin. Ich bekomme mehr und besseres Essen. Lehne ich es ab beleidige ich sie und sie sind traurig, also nehme ich es, fühle mich dabei aber komisch. Ich habe Klopapier und die Mädels nicht. Ich habe eine richtige Matratze, ein eigenes, besseres Bad. Die Hausmütter und Mädchen halten sämtliche Hausarbeit von mir fern. Ich muss sie regelrecht zwingen mich auch etwas tun zu lassen. Sie versuchen alles, damit ich mich möglichst wohl fühle und merken nicht, dass sie damit teilweise das Gegenteil bewirken. Ein harter Kampf meine Wäsche selbst waschen zu dürfen! Ich glaube so langsam habe ich ihnen klar gemacht dass ich keine Extrawürste will (bis auf weniges, z.B. Klopapier)…so wird die Extrawurst von Tag zu Tag etwas weniger. Gott sei Dank! Vor dem Schlafengehen heißt es noch »Faszination Digitalkamera«. Ich hätte nicht gedacht, dass es möglich ist so ausdauernd Spaß mit diesem Gerät zu haben. Noch ein paar gute Nacht Lieder und schnell sind alle im Land der Träume. Hoffentlich sind es schöne Träume! Für mich war es zunächst befremdlich zu sehen, dass sich 13 Kinder ein Zimmer teilen. Aber wenn ich mir die schlafenden Mädchen betrachte, irgendwie auch schön sich jeden Abend mit seinen zwölf Schwestern in ein Schlaflager zu kuscheln.
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Zeitsprung: Tag 32
Heute ist Zeit ein paar Familien glücklicher zu machen! Nachdem wir die erste Familie nicht antreffen, beschließen wir uns zuerst um das Schwein der Familie Santos zu kümmern. Einen Nachbarn, der selbst Schweine hält, fragten wir, wo wir das beste Mutterschwein finden können. Der Plan ist es nämlich, dass vom ersten Wurf des Mutterschweins ein Ferkelchen an eine weitere arme Familie gegeben wird, welche dieses wiederum zum Mutterschwein großzieht und von dessen ersten Wurf wiederum ein Ferkelchen weitergegeben wird und so weiter. Längerfristig kann Familie Santos von den Schweinen die Schulden abbezahlen und hoffentlich etwas besser leben. Eine gute Nachricht: Für die nächsten drei Monate hat Ginas Vater einen festen Job. Und die Schwester brachte ihr Baby zur Welt, welches anfangs kränkelte, jetzt aber wohl auf ist.

Auf der Farm auf der wir das Schwein kaufen, wimmelt es von kleinen Ferkeln, so süß! Ich darf mithilfe von Naldy auswählen. Ich hätte am liebsten das Schlappohrschwein genommen! Das humpelt aber und ich sehe ein, dass es wahrscheinlich nicht die beste Wahl ist. Das Auserwählte Schwein kann einem richtig leidtun! Es wird an Schwanz und Ohren gepackt, bekommt einen Sack übergestülpt und wird auf den Beiwagen eines Motorrads gehievt. Das arme Schwein quiekt vor Stress. Ein paar beruhigende Worte und eine kalte Dusche helfen mäßig. Am Haus der Familie Santos angekommen, hat das arme Ferkel überall Kratzer und Striemen, Stressflecken, ein blutendes Beinchen und einen ganz blauen Schwanz. Die Straßen sind einfach zu schlecht für den improvisierten Transport von Schweinen! Aber so ist das hier wohl üblich. Immer noch besser als so manch anderer Schweinetransport, den ich in der Nachbarschaft beobachten konnte und der mir schockiert die Haare zu Berge steigen ließ.
Nun wieder zu Familie Santos: Freude und Überraschung der Familie über das Schwein war riesig! Mutter und Kinder strahlten über das ganze Gesicht. Sie könnten gar nicht aufhören zu hüpfen und danke zu sagen. Ein paar herzliche Umarmungen, von den sonst so höflich distanzierten Philippinos, habe ich auch abbekommen. Das Futter für die nächste Zeit ist erst einmal sichergestellt. In einem Monat ist das Schwein so weit von einem Leihschwein befruchtet zu werden!
Unsere Jungpfadfinder haben sich für ihre letzte Sommerfahrt eine ganz besondere Aktion einfallen lassen, auf die ich sehr stolz bin. Sie war sehr ertragreich und deckt die Kosten für Schwein und viele weitere Monate Unterstützung für Gina.
Mitreden!