Also am Anfang, sagen wir mal im Jahr 1907, sind da ein oder zwei Freunde mit einer guten Idee. Eine Sippe gründen, einen Stamm gründen, die Pfadfinderei ins Leben rufen. Aus zwei werden zwanzig, aus zwanzig werden über die Jahre viele hunderte… Wenn man das Ganze weiter zu Ende denkt, ist also jeder Pfadfinder, man selbst eingeschlossen, ein friend of a friend of a friend von Baden-Powell. Als Pfadfinder hält man also den Faden eines gigantischen Netzwerks in der Hand, das sich seit vielen Jahren in alle Winkel des Globus ausbreitet. Auch stimmt es, dass, begegnen sich irgendwo auf der Welt zwei Pfadfinder, doch immer eine besondere Verbindung da ist. Man hat ähnliche Erfahrungen gemacht, man hilft sich, man kennt wen, der wen kennt, bei dem man zur Not übernachten kann. Und würde man sämtliche Pfadfinder zusammenzählen, hätte man mehrere Millionen Freunde. Da kann die virtuelle Freundesliste im Netz nicht mithalten. Also funktioniert das Ganze frei nach dem Motto »Kennste einen, kennste alle?« So einfach ist es dann doch nicht.
Also funktioniert das Ganze frei nach dem Motto »Kennste einen, kennste alle?«
Der Pfadfinder ist Freund aller Menschen und Bruder aller Pfadfinder. So befiehlt es gar das altehrwürdige Pfadfindergesetz seiner jungen Gefolgschaft. Die unedle Wahrheit ist aber doch, dass man an dem Tag, an dem man vom Bruder oder dem Nachbarsmädchen zum ersten Mal zu einem Heimabend mitgenommen wird, überhaupt nichts weiß von diesem überdimensionalen Freundeskreis, der Weltpfadfinderschaft heißt. Nein, das ist einem egal. Es interessiert einen doch nur das ganz Einfache: Die Spiele, das Eisessen im Sommer, der richtige Schlafplatz in der Jurte, zwischen den beiden wichtigsten Freunden. Wenn all das passt, dann bleibt man gern, dann werden aus zwei Heimabenden zwanzig… Es interessiert einen auch nicht die Bohne, wer aus der Gruppe später mal Geschichte studiert und wer Sozialpädagoge, Schneiderin oder Richter wird. Oder wer viel oder wenig Geld verdienen wird. Man spielt und wandert mit allen gleich, manche sind ganz okay und manche werden beste Freunde. Angeleitet von den Führern durchlebt man die Stufen des Pfadfinderlebens. Es zählen für ein paar Jahre andere Fähigkeiten und Eigenschaften als Herkunft oder zukünftiger Bildungsgrad. Das ist unrealistischer Kitsch? Aber nein, denn die (edle) Wahrheit ist, dass es bis ins hohe Sippenalter hinein tatsächlich wichtiger sein kann, ob jemand viele Lieder kennt, gute Kohten aufbauen kann, köstlichen Reis mit Scheiß kocht oder die Gabe besitzt, mit blöden Witzen die Angst vor einem Unwetter zu vertreiben. Es ist wichtiger.
Das in der Außenwelt ach so Wichtige ist egal – und das ist wichtig. Diese eigenwillige Deutung der beiden Worte »wichtig« und »egal«, die man bei den Pfadfindern erleben kann, ist einfach und genial. Sie ermöglicht, dass Kinder, die rein zufällig im selben Ort wohnen und ebenso zufällig bei den ersten Heimabenden zusammentreffen, zu einer Gruppe werden können. Es gibt da dieses Angebot im Ort, wo man das Kind für zwei Stunden in der Woche hinbringt und wo Kinder für wenig Geld in den Ferien auf Fahrt fahren können. Wenn der große Vertrauensvorschuss, den Eltern den Pfadfindern hier entgegenbringen, ernst genommen wird, funktioniert dieses Konzept ganz wunderbar. Die Fähigkeit, Unterschiede zu überwinden, die Kluft, die dabei hilft, und die für alle gleiche Einfachheit auf Fahrten in Regionen außerhalb der Zivilisation sind Elemente, die dabei eine zentrale Rolle spielen. Es kann eine Blase, ein Freiraum entstehen, in dem Möglichkeiten für Neues gegeben wird, so etwa für Freundschaften. Auf den Fahrten und Lagern können Kategorien wie räumliche Entfernungen, Herkunfts- und Mentalitätsunterschiede kurzzeitig ausgehebelt werden. Über Jahre können es von Fahrten wie Freundschaften viele werden, im Stamm, im Ring, im Bund. Der Gewinn aus diesem faszinierenden Gebilde, dem Netzwerk Pfadfinder, wird einem im Rover- und Älterenalter allmählich klarer. Neben dieser Parallelwelt, dem Entfaltungsraum Pfadfinder, ist jeder dieser dort gewonnenen Freunde auch seinen und ihren persönlichen Weg gegangen, hat eine Ausbildung gemacht und natürlich wiederum Freunde »außerhalb«. Und so kann es sein, dass man nach einigen Jahren einen ganz bunt gewürfelten Bekanntenkreis haben kann, in dem es Sozialpädagogen, Schneiderinnen, Richter, und viele mehr gibt. Das ist fantastisch – und zum Glück auch manchmal ein bisschen egal.
Mitreden!