Zucker, Zucker, Zucker. Ich laufe in meiner Küche auf und ab. Egal wo ich suche: keine Süßigkeiten. Cola? Fehlanzeige. Nicht mal Honig, den habe ich aus weiser Voraussicht vor Tag Null weggegeben. Das ist drei Tage her und ich befinde mich mitten im Zucker-Entzug. Das Experiment ist klar: Für 30 Tage Zucker, so weit es geht, zu streichen. Cold Turkey. Jetzt verstehe ich auch, was Exraucher meinen, wenn sie sagen: Die ersten paar Tage ohne sind ein Picknick – dann wird’s hart.
Es war, als hätte ich mein Auto mit Gaffa-Tape repariert.
Der Mensch liebt Rhythmus. Nicht nur bei der Musik, sondern vor allem im Leben. Rhythmus zeigt an, wo was wann sein soll. Man kann sich drauf verlassen und sich dran entlang hangeln. Nicht umsonst ist ein geregelter Lebensrhythmus bei einem Kreditgespräch, Hochzeitsvermittler oder einer Reha-Maßnahme viel Wert. Doch genau das kann sich ins Gegenteil wenden. Wer einmal in einem festen Groove gefangen ist, kommt oft nur schwer wieder raus. Schließlich gilt in den meisten Fällen: Gleicher Input = Gleicher Output. Sprich, wer immer das Gleiche macht, darf sich nicht beschweren, dass nichts besser wird. Das kam mir gelegen, denn schlimmer hätte es kaum werden können. Einige Monate vor Tag Null hatte ich bemerkt, dass mein Energielevel am Vormittag und frühen Nachmittag regelmäßig abstürzte. Ätzend, gerade auf der Arbeit. Die Lösung klang erst mal logisch: Blutzucker unten – Schokolade rein. Süßigkeiten als Selbstmedikation. Es war, als hätte ich mein Auto mit Gaffa-Tape repariert. Für eine Weile klappert nichts, aber dann wird alles schlimmer. Irgendwas musste sich ändern. Die perfekte Ausgangslage also, um ein Experiment zu wagen.
Matt Cutts, ein Softwareentwickler beim Suchmaschinen-Riesen Google, brachte mich drauf. In einem online abrufbaren TED-Talk präsentiert er die Idee, verschiedene Dinge 30 Tage lang auszuprobieren. Rund ein Monat sei lang genug, um sich intensiv mit etwas Neuem auseinander zu setzen. Das Neue werde Teil des Alltags und könne so auch langfristig betrachtet werden. Projektideen gibt es in Hülle und Fülle: Eine Fremdsprache lernen, jeden Tag ein Foto machen, ein Buch schreiben oder das neue Eau de Toilette testfahren. Dabei geht es nicht um Perfektion. Das neue Spanisch reicht vielleicht gerade für den Flirt im Winterurlaub und das Buch ist wahrscheinlich eher Lassiter als Shakespeare. Aber das ist völlig egal. Was zählt, sind die Erfahrungen und die neuen Impulse. Wenn Fotografie auch nach 30 Tagen keinen Spaß macht, weg damit. Aber wenn doch: neue Perspektiven!
Kaffee schwarz wie die Nacht anstatt süß wie die Sünde.
Also gut, Ziel erfasst. Macht mich das Süßzeug immer müder, oder ist es einfach der normale Stress im Arbeitstag? Um das rauszufinden, würde ich 30 Tage lang auf so viel Zucker verzichten wie möglich. Also weder Snickers noch Softdrinks, keine Fruchtsäfte oder Gebäck. Kaffee schwarz wie die Nacht anstatt süß wie die Sünde. Es würde sicher nicht einfach werden, aber was sind schon 30 Tage? Eine Großfahrt ist länger. Wie schlimm könnte es werden? Das Gute bei so einem Selbstversuch ist, dass das Ziel immer in greifbarer Nähe liegt. Weil der Zeitplan so übersichtlich ist, ergibt sich die nötige Konsequenz meist von ganz alleine. 30 Tage lassen keine Zeit für Aufwärmen oder Cool-Down. Es heißt, ins kalte Wasser zu springen und nicht erst den großen Zeh ins Becken zu halten. Matt Cutts hat Recht, wenn er sagt, dass man für 30 Tage fast alles machen könne. Das gilt besonders für Dinge, die man immer schon ausprobieren wollte, für die aber bislang der konkrete Impuls gefehlt hat.
Dauernde Kopfschmerzen und eine echt üble Laune.
Wer sich auf ein Experiment einlässt, empfängt für die nächsten 30 Tage jede Menge neue Eindrücke. Vielleicht muss er sich anstrengen oder konzentrieren, seine Tage anders planen oder regelmäßig in sich gehen. Auf jeden Fall macht das neue Projekt die Tage besonders. Und was sich abhebt, wird leichter erinnert. Anstatt Monate zu haben, die einfach vorbeiziehen, gibt es Erinnerungen an einzelne Zeiträume und die einmaligen Erfahrungen. Eins ist klar: Ich kann mich konkret an jede einzelne Phase meines Zucker-Schockentzugs erinnern. Von den euphorischen ersten Tagen bis zum Frontalcrash danach. Zeiten, an denen mir Süßes nicht aus dem Kopf ging und ich mich kaum konzentrieren konnte. Dauernde Kopfschmerzen und eine echt üble Laune. Und dann: alles weg. Nach rund zehn Tagen lösten sich die Wolken plötzlich auf. Und nicht nur die Entzugserscheinungen, auch die Energiestürze waren verschwunden. Komplett und rückstandslos. Wow.
Dieses Überraschungsmoment ist der Kern der 30-Tage-Tests. Aus dem Alltag wird ein einzigartiges Abenteuer voller neuer Erfahrungen und Möglichkeiten. Plötzlich verschiebt sich die Perspektive und der geistige Horizont kippt ein Stück. Der Mensch braucht solche Erfahrungen abseits des dumpfen Dahinlebens, nicht umsonst gehen wir gemeinsam auf Fahrt. Nur wenige haben die Chance, den Kilimandscharo zu besteigen, ein Jahr durch Indien zu trampen oder ein neues Leben in Neuseeland zu beginnen. Aber jeder hat 30 Tage für ein Experiment in eigener Sache.
Der Zuckerschock war nur mein erster Selbstversuch. Seitdem habe ich Tagebuch geführt, kalt geduscht, irritierend viel Fleisch gegessen und eine Menge Nachrichten vertont. Manche Sachen habe ich beibehalten, andere nicht. Jedes Projekt war aber spannend und auf seine Art bereichernd. Und eines kann ich sagen: Die erste Cola danach war wirklich ungeahnt süß.
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