Dem Nachbar seine Nachbarn

Da war neulich so ein Infozettel im Briefkasten. Von den Pfadfindern aus unserem Dorf. Wusste gar nicht, dass wir hier welche haben. Hab ihn durchgerissen und in die Tonne gekloppt. Geht bestimmt wieder um die Altkleidersammlung oder so. Aber aus den Papierschnipseln leuchtet mir ein Wort aus der Tonne entgegen »…singefest«. Fest? Schnell sammle ich die Einzelteile dieses Dokumentes wieder aus dem Papiermüll und setze sie wieder zusammen: »25. Jubiläum, … Singen,… Musik, …600 Gäste erwartet…« Was? 600 Gäste! Wo wollen die die denn alle unterbringen? Doch nicht etwa hier nebenan auf der Wiese? Da sind doch sonst Schafe und so. Das erlaubt die Stadt doch niemals. Es wird besser sein, wenn ich dieses Zeugnis zukünftiger Ruhestörung und Naturverschandelung aufbewahre. Nur für alle Fälle. Falls Zeugen gesucht werden.

Vorsorglich klebe ich alles fein säuberlich mit Tesa zusammen und präsentiere das Werk meiner Frau als sie nach Hause kommt. Wider Erwarten freut sie sich für die Jugendlichen. Endlich kommt mal ein bisschen Leben in das Dorf, sagt sie. Ich glaube ich habe mich verhört! Leben! Ein Festival planen die hier. Garantiert stehen nachher alte Sofas und zerstörte Plastikzelte auf der Wiese rum. Von dem Krach mal ganz abgesehen. Reisebusse werden den Rasen umpflügen und alle pinkeln uns an den Zaun. In Urlaub fahren wir an den Wochenende auf keinen Fall. Ich pass lieber auf, dass die hier nicht noch auf unserer Terrasse rumlaufen.

Schon ein paar Tage vor dem angekündigten Termin tauchen hier die ersten Gestalten auf. Sie bauen an einem schwarzen Monstrum. Sieht aus wie eine zusammenfaltbare Ketzerkapelle. Wahrscheinlich halten die da drin schwarze Messen ab. Von meinem Balkon aus kann ich das Treiben wunderbar beobachten. Das Handy griffbereit: Falls die Ausschreitungen beginnen kann ich sofort die Polizei anrufen. Alle tragen Uniform und die Abläufe scheinen einstudiert und sie essen alle gemeinsam ganz diszipliniert in einem Sitzkreis. Da hätte ich ja keinen Bock drauf. Das geht doch auf den Rücken. Irgendwann werden dann noch 20 Dixieklos und ein Kühlwagen angeliefert. Also doch so was wie ein Festival. In Wacken sieht es ja auch immer richtig schlimm aus, wenn die ganzen irren Gothik-Typen da sonntags wieder wegfahren. Hab ich zumindest auf RTL II gesehen. Das erste Auto von der örtlichen Presse fährt vor und ein Schutzmann taucht auf. Also hat sich doch endlich mal einer beschwert! Zwei Fieselschweife lassen vom Zeltaufbau ab und schütteln den Herrschaften die Hände. Wenigstens wird das friedlich aufgelöst. Es werden Fotos geschossen, man unterhält sich kurz und dann löst sich die Szene wieder auf. Das darf doch nicht wahr sein. Dürfen die etwa weiter machen?

Freitag rücken dann die Massen an. Die Reisebusse halten oben auf der Hauptstraße und alle bauen eifrig auf der Wiese ihre Zelte auf. Das fasziniert mich irgendwie. Meine Frau macht Fotos vom Balkon aus. In dem großen schwarzen Monsterzelt brennt schon ein Lagerfeuer und in einem Küchenzelt werden Brote gereicht. Irgendwie doch ganz idyllisch. Den gesamten Samstag über wird musiziert und gesungen. Die Kinder spielen draußen auf der Wiese und zwischendurch essen alle zusammen im großen Kreis. Alle, wirklich alle sitzen im Kreis und sind gleich angezogen. So eine Art homogene Masse. Irgendwie beruhigend. Meine Frau serviert das Abendessen auf dem Balkon. Wir lauschen den Klängen von Gitarren, Geigen und Kontrabässen. Manches klingt ein bisschen schief, anderes wie ein professioneller Kinderchor. Die scheinen lange dafür geübt zu haben. Langsam wird es dunkel. Die Sterne glitzern über den Zelten und langsam steigt Rauch aus der höchsten Öffnung im großen Zelt. Die Kinder singen noch ganz lange. Die Polizei ruft keiner an. Ist ja eigentlich auch ganz nett. Und irgendwie gar nicht so Techno-mäßig. Sofas hat auch keiner mitgebracht. Ob die das wohl nächstes Jahr wieder machen?

Online ist dir nicht retro genug? Kein Problem, du findest den Artikel auch im haddak 1/2013 auf Seite 44.

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