Mehrere Tage Ukraine liegen nun hinter uns. Die ersten Eindrücke, die einen mal mehr mal weniger verwirrten, haben sich gesetzt. Zwar können wir immer noch nicht annähernd die kyrillischen Buchstaben lesen, geschweige denn aussprechen, aber wir wissen immerhin schon, dass BAP Bar heißt und, dass, wenn man diese betritt, man »dobryi den« sagt und nach Erhalt der »dwa pywo«, »djakuju« antwortet. Mehr, so erkennen wir sehr schnell, kann man nicht erwarten bzw. werden wir nicht mehr in unsere Hirne und auf unsere Zungen bringen können.
Wir haben uns daran gewöhnt mit einer 1:400.000 Karte Landstraßen entlang zu irren, haben aufgehört zu glauben, dieser Landstrich halte so etwas wie Gastronomie für uns bereit, in der man lokale Köstlichkeiten ausprobieren könne und wissen nun, dass hiesige Orte identisch sind mit Straßen, die niemals aufhören, stattdessen ineinander übergehen und so das Finden eines Schlafplatzes am nicht vorhandenen Ende des Ortes Herausforderungen an die eigene Phantasie stellt.
Millionen von Hühnern
Wir lieben mittlerweile aber auch die unzähligen Kirchen, die Millionen von Hühnern, die allgegenwärtig die Straßen und Gärten dieser Gegend bewohnen und die Pferdefuhrwerke, die so hoch mit Heu beladen sind, dass in Deutschland dafür eine Baugenehmigung eingeholt werden müsste. Besonders angetan haben es uns aber die Menschen. Sie schauen uns und unsere Rucksäcke mit einer Mischung aus Faszination und Irritation gleichermaßen an, freuen sich und in Windeseile ist man eingeladen zu einem Vodka oder angeschnorrt um eine Zigarette. Und dennoch: richtig nah kam man sich bisher nie. Ein kurzer Kontakt, wildes Händegestikulieren, Lachen und schon haben sich die Wege wieder getrennt.
Wir sind nun schon auf dem Weg zur Grenze. In ein paar Tagen beginnt das Bundeslager und da wir uns vorher noch mit Thomas und Uli treffen wollen, heißt es nun langsam Abschiednehmen von diesem wundersamen Land. Kurz vor der Grenze fängt es an zu schütten. Ein Grenzladen an dem die Polen schnell noch einkaufen, bietet uns eine kurze Unterkunft und natürlich versorgen auch wir uns mit dem Nötigsten. Der Regen wird schwächer, aber aufhören will er nicht. Es ist ca. 15 Uhr und wir entschließen uns ein paar Schutzhütten aufzusuchen, die ein paar Meter zuvor von der Straße aus zu sehen waren. Kurz bevor wir zu ihnen abbiegen, hält ein alter oranger Lada. Wir erkennen nicht viel, nur dass ein Typ uns irgendetwas zuruft und dabei aufgeregt mit einer Vodkaflasche winkt. Wir laufen dem Wagen hinterher, denn auch er will ganz offensichtlich zu den Hütten.
Angekommen lächelt uns der Typ mit einem breiten Grinsen und seinen vielen und wohlig schiefen Goldzähnen an. Es ist Ivan. Mit und scheinbar immer an seiner Seite Andrej. Sie schütteln uns aufgeregt und auch etwas aufgedreht die Hand und lotsen uns zielsicher zu einer der Hütten. Dort sitzen noch zwei andere Herren, von denen der eine recht korpulent ist und, so glauben wir zumindest, so etwas wie Brut heißt, und ein hagerer, schweigsamer und schon einigermaßen angetrunkener Typ, aus dessen wenigen Worten wir nicht seinen Namen herauszudestillieren vermögen. Sie scheinen ihre Mittagspause zu machen und nun bevor es wieder ans Werk geht sich einen dieser klaren Schnäpse zu Gemüt führen zu wollen. Wir sind eingeladen.
Wir werden lernen, dass der Chef eine Art Hohepriester der Trinkkultur ist, dass Ölsardinen besonders gut mit Majo, Knoblauch und mit Speck versetztem Scheiblettenkäse schmecken und dass drei große Flaschen des ukrainischen Nationalgetränks ohne weiteres zu schaffen sind, wenn man eben einen solchen Hohepriester und besagte Ölsardinen bei sich weiß.
Storch und ich setzen uns auf die Bank und bekommen jeder einen guten Schluck eingeschenkt. Wir erheben weltmännisch unseren rosa Plastikbecher und wollen anstoßen. Doch so stillos geht das nicht. Mützen ab! Und nicht auf den Tisch damit! Jetzt aber. Brut, der sich im Laufe der kommenden Stunden als der Chef der drei Gesellen herausstellt, hebt das Glas und prostet uns völkerverständigend ein »Freundschaft!« zu. Unser zurück gestammeltes »druschba!« stößt zwar auf Zustimmung, doch erst eine ganze Weile später wird geklärt werden können, dass dies die Übersetzung von Freundschaft ist. Überhaupt werden wir viel lernen. Wir werden lernen, dass der Chef eine Art Hohepriester der Trinkkultur ist, dass Ölsardinen besonders gut mit Majo, Knoblauch und mit Speck versetztem Scheiblettenkäse schmecken und dass drei große Flaschen des ukrainischen Nationalgetränks ohne weiteres zu schaffen sind, wenn man eben einen solchen Hohepriester und besagte Ölsardinen bei sich weiß. Besonders lernen wir, dass diese Herren mit Sicherheit einer der nettesten, lustigsten und gastfreundlichsten Menschen sind, die wir jemals kennenlernen durften. Es sind Menschen, bei denen das Wort Gastfreundschaft eine sakrale und beinahe schon militante Note besitzt. Nichts aber auch gar nichts dürfen wir dem Beisammensein dazusteuern. Nur eins wird von uns verlangt: Noch einmal und noch einmal und noch einmal dieses Lied singen! Es ist unser Geburtstagslied, das es ihnen angetan hat.
Eine Weile zuvor waren mal wieder Ivan und Andrej kurz weggefahren, zum Vodka kaufen, wie wir dachten, und kamen mit einem Akkordeon wieder. Sogleich stimmten sie wunderschöne Lieder an und sogar der schweigsam vierte im Bunde offenbarte sich als geschulter Sänger, der die Melancholie der Lieder Osteuropas berührend vortrug. Und dann eben das Geburtstaglied. Nicht auf Russisch, wie wir es kennen, sondern auf Ukrainisch singen die vier uns die bekannte Melodie. Als wir daraufhin beginnen auf Deutsch zu singen, ist die Verblüffung groß, der Chef den Tränen nah und der Damm für alles Folgende endgültig gebrochen. Mindestens zehnmal werden wir noch aufgefordert es noch mal zu singen. Handys werden gezückt, Freunde angerufen und von uns durchs Telefon besungen. So wie sie für uns ein Wunder der Gastfreundschaft und der Lebenskunst sind, scheinen wir plötzlich für sie etwas ganz anderes aber doch ähnlich Faszinierendes bereitzuhalten. Was es ist, wagen wir nicht zu benennen, emotional ist es allemal.
Ich weiß nicht wie lange wir am Ende wirklich dort zusammen saßen, wie oft wir wirklich dieses Lied sangen und was wirklich Brut uns da alles für komische Kombinationen als Butterbrote schmierte. Nicht trotzdem, sondern gerade deswegen werden wir mit großer Freude und auch Demut noch sehr lange und vielleicht unser Leben lang an diese Momente denken, die wir mit den Vieren in einer kleinen Schutzhütte am Rande der ukrainischen Waldkarpaten verbrachten. So bleibt uns nur zu sagen: Danke Jungs, ihr seid die Besten!
Mitreden!