»ICH…« ist auf der Serviette vor mir draufgestempelt, ich nestele daran herum, mein Zustand: Postmorgenrundliches außer-Atem-Sein mit leichtem postpintenabendlichem Leiden. Und natürlich vor allem mit Präfrühstückshunger. Die ICH-Serviette liegt an jedem der bestimmt 150 Plätze der langen, hogwarts-mäßigen Tafel, um die sich – um im Bild zu bleiben – schnatternde Schüler sämtlicher Häuser versammeln und ihre Köpfe über den Lehrplänen zusammenstecken, um sich in deren Kurse einzutragen. »Einen autobiografischen Comic zeichnen« oder »Wege in den Journalismus« oder »Der Sinn des Lebens« oder »Buddhismus« oder »Die Ich-Wahrnehmung verschiedener Kulturen am Beispiel China«. »ICH…«, ergänze ich im Kopf, »…weiß nicht was ich wählen soll!«. Flashback: achte Klasse, Mittelstufendifferenzierungskurswahl. Erst mal Frühstück. In der Essensschlange: »Yo Eva, gehst du nicht auch zu Buddhismus? Lass mal hingehen. Alle Hipster gehen natürlich zu Buddhismus.« »Na klar wollte ich hin!«. Stimmt ja. So ähnlich hatte sich das ja auch damals bei den Diff-Kursen geklärt.
Im Kreis sitzen eine Handvoll Interessierte um den Referenten, einen Vertreter des Diamantwegbuddhismus. Wir meditieren. Die alten gemauerten Wände und der Steinboden umgeben uns kühl, von draußen stört Lärm. Das macht beim folgenden Vortrag nichts, man ist konzentriert, man fragt nach, man erhält einen Einblick aus erster Hand. Einen kühlen Einblick, viel mehr nicht. Wie steht der Buddhismus zu anderen Religionen? Wie war das nochmal mit dem Dalai Lama? Woran erkennt man einen Erleuchteten? Auf »frequently asked questions« gibt es befriedigende Antworten die nickend goutiert werden, für kritisches Nachbohren bleibt keine Zeit. Mit einem seichten Überblick und einer Tüte Bonbons geht man aus dem Raum.
Dies hier ist keine Reportage, sondern ein Erfahrungsbericht.
Geneigter Leser, geneigte Leserin, an dieser Stelle ein Warnhinweis: Dies hier ist keine Reportage, sondern ein Erfahrungsbericht. Eine Reportage hätte den Anspruch objektivstmöglich zu schildern. Aber wie objektiv kann ein Mensch sein? ICH erfahrungsberichte aus meiner subjektiven Warte. (Zack: schon simma wieder voll drinne im Thema.) Einen seichten Überblick über den Diamantwegbuddhismus haben wir Führungsforumshipster jetzt. Ein Sujet solchen Kalibers tiefgründig zu behandeln ist in einem so kleinkalibrierten Zeitraum unmöglich. Nichtsdestotrotz: Es gab den Anstoß zum weiterführenden Diskurs, für den der Referent ausdrücklich zur Verfügung stand.
Szenewechsel. Im Innenhof liegen Menschen in der Mittagssonne, bearbeiten träge das Themenfeld »ICH-horizontal«, bewegen sich lediglich der weiterziehenden Sonne entsprechend. Wedeln, ganz Diogenes, vertikale Schattenwerfer wie lästige Fliegen fort, die wiederum umherstromern (die schattenwerfenden Menschen natürlich, nicht die Fliegen. Wobei, vielleicht auch die Fliegen.) und die Mittagspause nutzen um sich am liebevoll hergerichteten Café gütlich zu tun oder das Gelände zu sondieren. Das lässt sich ganz prima sondieren, das Kloster Möllenbeck: Quadratisch angeordnete Gemäuer mit zwei Türmchen umschließen den märchenhaften Innenhof. Hohe Decken, steinerne, abgetretene Treppen, Efeuranken und lange Korridore, eins-A-Fantasyfilmkulisse. Ein bisschen Einöde und einige Felder umgeben das Kloster, kleine Pfade führen zu lauschigen Plätzen. An so einem der besonders lauschigen Sorte sitzen eine andere Handvoll Menschen und ich nach der Mittagspause. Wir sinnieren über den Sinn des Lebens. Der Referent wirft von Zeit zu Zeit Denkanstöße in die Runde und es wird diskutiert; da kommen Religion und Anthropologie ins Spiel, Philosophie, Gedanken an alternative Lebensformen, Utopien? Norm? Gesellschaft! Was ist Glück? Berufung! Erfolg! Egoismus? Selbstverwirklichung! Selbstverwirklichungszwang? Ich muss mich zwingen innezuhalten, um die im Stakkato auf mich niederprasselnden und in mir aufkommenden Schlagworte zu sortieren. Man lässt einander ungeduldig ausreden, hakt ein, schustert Thesen in Maßfertigung, versichert sich immer wieder, dass wir jetzt mit der Suche nach dem Sinn des Lebens auf keine Wahrheit stoßen werden und fängt wieder von einem anderen Anfang an. Eine wunderbare Plattform für solch eine Diskussion! Einander größtenteils Unbekannte mit unterschiedlichen beruflichen und konfessionellen Hintergründen nehmen sich extra Zeit, lassen sich nicht von Terminen oder klingelnden Handys ablenken. Nach des Pudels Kern schürft man in dem Fall wohl vergeblich, aber für mich habe ich das Gefühl, viele sehr interessante Auswüchse dessen freigelegt zu haben. Trotz Ausschweifungen und Dissens.
Bestimmt hundert Reagenzgläser, ein Wertekatalog des perfekten utopischen Menschen.
Im Innenhof ist eine Jurte aufgebaut: der Egodome. Darin ist es still und schummrig, von der Decke hängen Reagenzgläser mit Beschriftungen: »Freiheit« steht da, oder »Disziplin«, »Mut«, »Zusammenhalt«. Bestimmt hundert Reagenzgläser, ein Wertekatalog des perfekten utopischen Menschen. Und darin ICH ganz alleine, Linsen in meiner Hand, und denke über meine eigenen Ideale nach. Ich reduziere meine Auswahl: Halbe-Halbe rieseln meine Linsen in »Wahrhaftigkeit« und »Freiheit«. Letzteres Reagenzglas ist schon ohne meine Linsen fast voll gewesen.
Es ist gewissermaßen ein Festival der Formate.
Es ist gewissermaßen ein Festival der Formate. Klassische Referatssituationen mischen sich mit Diskussionen, die ruhige Auseinandersetzung alleine mit Werten im Egodome, abends in geselliger Pinten-Runde beteilige ich mich an Experten-Laien-Diskursen, nebenbei wird sich künstlerisch mit dem Thema »Ich« auseinandergesetzt. Gedichte werden vertont, autobiografische Comics gezeichnet, ein Gastschauspieler gibt am zweiten Abend ein wirklich sehr unterhaltsames Stück zum Besten: »Die Suche nach dem Glück«. Der schier unerschöpfliche Schwarmintelligenzfundus im DPBM fördert ein Zusammenspiel von naturwissenschaftlichen, philosophischen, kreativen, gesellschaftlichen Herangehensweisen an die Thematik zutage. Schon im Vorfeld hatte man über die Internetseite Einblick in die verschiedenen Workshops und Veranstaltungen; den Vorlauf brauchte man definitiv um sich mit dem überbordenden Angebot vertraut zu machen. Hallohallo, hier funkt wieder meine subjektive Warte: Eine schmalere Auswahl hätte sicher die Teilnehmerzahlen pro Veranstaltung begünstigt, die teilweise sehr karg ausfielen. Die verschiedenen Darreichungsformen der Themen und ihre Inhalte, die Gestaltung des Programms und der Dekoration voller Liebe zum Detail konnten Tellerränder und Horizonte erweitern. Beeindruckend. Ein weites Spektrum an Gedanken, die, wenn auch nicht unbedingt dortselbst fertigverhandelt, sehr wohl wertvolle Blickwinkel sind. Geneigter Leser, geneigte Leserin, hier nun voll objektiv: Es war eine lohnenswerte Sache. Falls du nicht dabei warst: Nimm meine Empfehlung zu Herzen, falls du überlegen solltest das nächste Mal irrigerweise wieder nicht dabei zu sein.
Mitreden!