Island im Februar 2017. Seit einem Monat bin ich nun schon auf dem alten Milchbauernhof „Krókur“ zuhause, der sich verloren in die Ebene vor Selfoss duckt. Selfoss, Metropole des Südens genannt, ist mit 7000 Einwohnern die drittgrößte Stadt, naja, sagen wir Siedlung des Landes. Wahnsinnig viel zu erkunden gibt es in der kleinen Ortschaft daher nicht, doch auf einem meiner einsamen Streifzüge entdecke ich etwas, das meine Aufmerksamkeit erregt: Die Pfadfinder_innenlilie, gelb und dennoch unverkennbar prangt sie unter der Aufschrift „Fossbúar“ (der Stammesname, wie ich später herausfinde) auf einem der niedrigen Häuser. Ohne lange nachzudenken, gehe ich einfach rein. Eine Woche später sitze ich in meiner ersten Gruppenstunde des Stammes Fossbúar (wörtlich übersetzt: Wasserfallbewohner_innen), Altersklasse: 18-20.
Am Anfang fällt es mir schwer Anschluss zu finden. Ich spreche kein Isländisch und fühle mich fremd. Ich verstehe die Gespräche nicht, nicht die Witze oder die Ansagen zum Programm. Die kompletten Konversationen auf Englisch abhalten geht nicht und ist auch nicht gewollt, da einerseits nicht alle in der Gruppe Englisch sprechen und es sich andererseits für die Isländer_innen auch komisch anfühlt, sich untereinander nicht in ihrer Muttersprache zu unterhalten. „Würde es sich für mich wahrscheinlich auch“, denke ich und merke dennoch, wie anstrengend es ist, „ausländisch“ zu sein. Trotzdem bin ich nicht bereit aufzugeben. Jeden Dienstag um 21 Uhr bin ich pünktlich am Heim, um zweieinhalb Stunden lang an einer Gruppenstunde teilzuhaben, die mir so anders vorkommt als all das, was ich bisher kenne.
Auf den ersten Blick scheint es unfassbar chaotisch zuzugehen. Zum Beispiel gibt es die „Kein- Handy–Regel“ nicht und wenn man mal was verpasst, ist das kein Problem, da man alles was so passiert auch nachher noch auf Snapchat angucken kann. Darüber hinaus kommt und geht jeder, wie es ihm gerade passt, so etwas wie Zuspätsein gibt es nicht, Hauptsache man taucht überhaupt irgendwann auf. Des Weiteren nutzen einige Mitglieder regelmäßig die Gruppenstunde, um ihr Abendbrot zu verzehren, und erscheinen jedes Mal mit einem Pizzakarton von der nahegelegen Pizzakette, die dienstags Angebotstag hat. Da es sich bei uns um eine Gruppe von Älteren handelt und die Gruppenleiterin (28) das Planen uns überlässt, geht es meist recht spontan zu. Wenn überhaupt jemand etwas vorbereiten sollte, taucht die betreffende Person meistens nicht auf und dann wird eben Karten gespielt, gequatscht oder sonst irgendein Unsinn getrieben. Auch die Tatsache, dass die isländischen Pfadfinder*innen in Plastikzelten auf Fahrt gehen, kommt mir zunächst sehr ungewöhnlich vor, ist bei genauerem Hinsehen aber verständlich, da man in Island auch im Sommer mit Temperaturen um die zehn Grad und horizontal fallendem Dauerregen rechnen darf.
Doch nachdem der Schock der ersten Gruppenstunden abgeklungen ist, fällt es mir immer leichter mich in Gespräche einzubringen (einfach losfragen), mir all die seltsam anmutenden Namen zu merken (z.B. Eydís, Þóranna, Úlfur oder Ólöf) und Kontakte zu knüpfen. Auch nehme ich mit der Zeit nicht mehr vornehmlich die Unterschiede zu meinem Stamm wahr, sondern die Gemeinsamkeiten. Beim Stamm Fossbúar geht es hauptsächlich darum, sich zu treffen und gemeinsam Spaß zu haben, der_die sein zu dürfen, der_die man ist. Etwas Besonderes unternehmen muss man dafür gar nicht. Bei uns ist das nicht anders.
In meiner letzten Gruppenstunde darf ich dann etwas planen. Ich möchte den Isländer_innen ein deutsches Pfadfinderlied beibringen. Nur nicht zu kompliziert darf es sein und am besten auch eine eingängige Melodie haben… also „Burschen, Burschen“. Meine Übersetzung des Textes ist zwar eher fragwürdig („Boys, boys we ruin…“), lustig ist es aber trotzdem. Und während die eine Hälfte der Gruppe sich schon in den Nebenraum verkrümelt hat, um mit einer Handyapp Deutsch zu üben, darf ich noch das Bakpóki-Lied lernen. Ein Lied über einen Rucksack, sehr pfadfinderisch.
Am Ende meiner Zeit auf Island bin ich nicht nur traurig das Land verlassen zu müssen, sondern auch meine neuen Freund_innen, die ich bei den Pfadfinder_innen gefunden habe. Trotz meines nicht unkomplizierten Starts habe ich einen neuen Weg gefunden, die Person sein zu können, die ich bin und etwas Vertrautes in der Fremde wiedergefunden: die Pfadfinderei.
Mitreden!