Gibt man bei Google den Suchbegriff »Osteuropa« ein, so erhält man Angebote zur wirtschaftlichen Situation und politischen Entwicklungen der osteuropäischen Staaten. »Südeuropa« befördert hingegen Reiseangebote und Campingführer zu Tage. Woran liegt das? Kann man im Osten Europas keinen Urlaub machen? Scheint da vielleicht gar nicht die Sonne? Oder noch schlimmer: Gibt es dort keine Zeltplätze?
Die Skepsis scheint immer noch groß. Das lässt auch die Reaktionen vieler Eltern erahnen: »Ihr fahrt nach Polen? Dass ihr euch das überhaupt traut!« Natürlich trauen wir uns! Wir sind Pfadfinder und wollen die Welt entdecken! Warum also nicht auch im Osten Europas? Doch im Zuge der Fahrtvorbereitungen wird eine Frage immer drängender: Warum sind die Eltern so skeptisch? Steckt da noch mehr dahinter?
Polen ist nicht unbedingt das typische Reiseland – mag man im ersten Moment denken. Doch die Angebote im Outdoor-Bereich sind grenzenlos: Reit- und Kletterurlaub, Kanutouren und Wanderrouten. Dazu dünn besiedelt und voller blühender Landschaften. Also wie geschaffen für uns. Der wilde Osten ruft!
Es liegt in der Natur eines Pfadfinders die Welt zu erkunden, andere Länder und Menschen kennen zu lernen und ihre kulturellen Gewohnheiten zu entdecken. Polen hat in dieser Hinsicht sehr viel zu bieten: eine Ostseeküste, Gebirge, Wald- und Seenlandschaften sowie das gemäßigte Klima laden zum Hajken ein.
Die Pfadfinderbewegung war bis 1939 die größte Jugendbewegung in Polen, die dann durch das NS-Regime verboten wurde. Heute ist Polen ein parlamentarisch demokratischer Staat wie Deutschland, und die Pfadfinderbewegung so aktiv wie kaum zuvor: Jeder dritte Pole ist ein Pfadfinder. Dazu kommt, dass die Polen besonders gastfreundlich sind und es einem leicht machen, sich trotz Sprachbarriere dort zurecht zu finden. Also was spricht noch dagegen nach Polen zu fahren?
Ein ungutes Gefühl bleibt dennoch. Es ist nicht bloß eine Sprachbarriere, die fremde Währung oder andere Kultur, die dieses Gefühl entstehen lassen. Es ist eine Mauer. Die Mauer, mit der unsere Eltern rund dreißig Jahre lang leben mussten. Der Eiserne Vorhang, der West und Ost nicht nur geographisch trennte, sondern auch kulturell. Was sich hinter der Grenze verbarg war ein Mysterium. Der Feind, der Atombomben besaß, mit dem dritten Weltkrieg drohte und seinem Volk freies Reisen nicht ermöglichte. Pfadfinder waren Staatsfeinde und daher vom sowjetischen Staat verboten, wie die meisten anderen Jugendbewegungen. Als Alternative gab es staatliche Angebote. Bei der Einreise in den Osten Europas war ein Visum vorzuzeigen, das Auto wurde durchsucht und Reiserouten vorgeschrieben. Keine besonders reizvolle Umgebung für einen ausgedehnten Familienurlaub.
Die Zeiten der politischen Unruhen sind vorbei, die Erinnerungen aber bleiben. Was sind auch 23 Jahre im Verlauf der Weltgeschichte? In so kurzer Zeit können zwei Nationen nur schwer zusammenwachsen. So ist es also verständlich, wenn unsere Eltern erstmal skeptisch sind. Doch zum Selbstverständnis eines Pfadfinders gehört es »offen für neue Wege« zu sein und »zur Freundschaft aller Pfadfinder und zum guten Miteinander aller Menschen beizutragen«. Also wagen wir einen neuen Weg in den Osten. Reisen wir nach Polen und erkunden die unendlichen wilden Wälder der Karpaten und die kulturellen Besonderheiten dieses Landes. Lernen wir die Menschen kennen, die so lange hinter dem Eisernen Vorhang lebten.
Die Mauer und der Eiserne Vorhang können uns nicht mehr aufhalten. Halten wir uns also auch gegenseitig nicht auf und erkunden wir das Land, das unseren Eltern verwehrt blieb. Berichten wir ihnen davon, wie schön es dort ist! Vielleicht wagen auch sie dann den Sprung über die kleine Mauer in ihrem Kopf und machen es uns nach.
Mitreden!