Aah, diese himmlische Ruhe. Der Himmel blau, die Vögel zwitschern in den Bäumen und der leichte Duft bunter Blumen liegt in der Luft. Diese Ahnung von sommerlichem Frieden und ungezwungener Freiheit. Und am allerwichtigsten: Kein Kindergeschrei, kein ewiges Geplärre der enervierenden Halbstarken von Gegenüber. Es ist wie im Paradies. In Gedanken schon beim Nachmittagstee mit meiner Nachbarin Frau Lühr schlendere ich leichten Fußes von meiner Veranda in den Garten hinab. Kaum beuge ich mich herunter, um meine preisgekrönten Koi-Karpfen zu füttern, als plötzlich ein markerschütterndes Grollen, Klappern und Quietschen die Stille zerreißt. Ich schaue mich um und sehe ihn schon die Straße heraufkommen: ein klappriger VW-Bus mit eiernden Reifen und der Federung eines Bobby-Cars. Irgendjemand hat mit blauer Farbe amateurhaft die Finnische Flagge auf die Schiebetür gemalt. Natürlich sind sie’s – die Fieselschweifs sind zurück. Keuchend kommt das infernale Gefährt vor dem Hauptquartier der Meute zu stehen. Ein letztes Husten des Motors und eine schwarze Qualmwolke – der Wagen steht. Langsam öffnet sich die Schiebetür und ein käsiger Pfadfinder steigt aus. Schon bei seinem Anblick stellen sich die Nackenhaare auf. Mit ein paar Schritten ist er beim Fahrer und öffnet ihm die Tür. Der lehnt sich nochmal übers Armaturenbrett, schaltet das Kassettendeck aus und beendet so das Scheppern der Leningrad Cowboys aus den Lautsprechern. Er steigt aus. Ich reibe mir die Augen, aber es bleibt: er trägt einen Wikingerhelm. Mit Hörnern. »So Jungs, nun mal alle raus und ausgepackt!« nuschelt er Richtung Fond, während er sich ausgedehnt streckt und wendet. Da rührt sich was und die restlichen Kerls quellen langsam wie zähe Molasse ins Sonnenlicht. Rucksack um Rucksack wird am Straßenrand gestapelt. Dann folgen Zeltplanen, Töpfe, Kisten und armeweise Krimskrams. Scheinbar hat die Bande alle Andenkenläden von Nuorgam bis Hanko leer gekauft. Ich kann mindestens zwei Eishockeyschläger, ein paar Kanu-Paddel und ein Rentiergeweih erkennen. Da sieht er mich. »Terve!«, ruft er mit einem Lächeln und winkt hektisch mit einem riesigen Trinkhorn, das er gerade in seinem Rucksack verpacken wollte. »Wir sind aus Finnland zurück!« Ich nicke nur stoisch. Da fängt er an in seinen Sachen rumzukramen. Nach einigem Ziehen und Zerren hat er gefunden, was er suchte und kommt mit hinter dem Rücken versteckten Arm zu mir hinüber. Mit meiner Hand greife ich meine Futterkelle fester. Bei den jungen Wilden kann man nie wissen. Grinsend steht er vor mir. »Für Sie haben wir auch was dabei«, erklärt er und drückt mir eine Flasche in die Hand. »Auf gute Nachbarschaft, nicht?« – Es ist Beerenlikör. Die Flasche hat Bärenform und einen Bären auf dem Etikett. Ich bin gerührt. Entschlossen schüttele ich seine Hand und er kehrt zu seiner Truppe zurück. Eine nette Geste, denke ich. Aber: Die Zeit des Friedens ist für ein weiteres Jahr vorbei.
Dem Nachbar seine Nachbarn
Ein Artikel aus dem haddak 2/2009 aus der Rubrik Manege. Du brauchst etwa 2 Minuten, um den Artikel zu lesen. Nimm dir die Zeit!
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