Nach anderthalb Tagen Zugfahrt kriechen wir aus unserem Schlafwagen. Der Nachtzug von Wien nach Bukarest fährt inzwischen durchs rumänische Flachland, und das erste Abenteuer liegt schon hinter uns: Nachts um vier weckt uns lautes Klopfen an der Tür. Kennen wir schon, Zöllner. Diesmal wohl die rumänischen. Pässe raus, verschlafen die Zöllner anblinzeln und fertig ist die Kiste. Ich bin schon fast wieder eingeschlafen, da höre ich aufgeregtes Diskutieren aus dem Nachbarabteil. Innerhalb von Sekunden stehen Thorsten und ich auf dem Gang – in Boxershorts. Ich helfe Sean in seinem Bett nach seinem Pass zu suchen. Gleichzeitig reden wir alle auf die Zöllner ein, dass wir nicht der Meinung sind, dass Sean hier und jetzt aussteigen sollte. Sie sind anderer Meinung, schließlich findet sich aber der Pass und sie ziehen ab.
Gleichzeitig reden wir alle auf die Zöllner ein, dass wir nicht der Meinung sind, dass Sean hier und jetzt aussteigen sollte.
Jetzt sind wir also fast da und der erste Eindruck, den wir durch die Zugfenster gewinnen, ist Fahrtenromantik pur: Aus dem Morgennebel, der nur wenig Sicht gibt, tauchen alle paar Meter kleine Heumieten auf. Hin und wieder rattern wir durch verschlafene Örtchen und die kleinen, einspurigen Asphaltsträßchen, die alle Nase lang die Schienen kreuzen, sind menschenverlassen.
Dann sind wir unterwegs. Wir wollen von Alba Iulia nach Norden laufen. Weder in Deutschland, noch vor Ort haben wir es geschafft, eine Wanderkarte zu bekommen. Daher sind wir mit einer 1:750.000 Straßenkarte unterwegs. Das Unterwegssein beginnen wir mit einer bald bewährten Einrichtung: der Mittagspause. Bis drei Uhr ist es dermaßen unerträglich heiß, dass an Bewegen, geschweige denn an Wandern, nicht zu denken ist. Wir klettern einmal über die Bahnschienen und sind schon außerhalb der Stadt. Im Westen türmt sich ein Sommergewitter auf, aber wir sind optimistisch, dass es vorbei zieht. Wir versuchen querfeldein Richtung Nordosten zu kommen. Nach kurzer Zeit kreuzt ein schmaler Fluss unseren Weg. Wir ziehen die Schuhe aus und waten aufs andere Ufer. Dort muss dann erst einmal die Böschung erklettert werden, dann kann’s weitergehen. Wenige Meter später stehen wir vor dem nächsten Fluss. Der ist jetzt leider deutlich zu tief und zu breit zum Durchwaten. Also folgen wir erst einmal dem Flusslauf. Da holt uns das Gewitter ein. Zwei heftige Windstöße und schon beginnt es wie aus Eimern zu gießen. Wir sprinten unter die Bäume am Ufer, viel Schutz bieten sie aber nicht. Wir packen Ponchos aus und halten sie über unsere Köpfe. Wenige Minuten später ist die Sonne wieder da. Wir folgen weiter dem Flusslauf und können bald eine Brücke erkennen. Blöderweise mündet direkt vor der Brücke der vorher durchquerte Fluss. Zusätzlich ist die Böschung hier so steil, dass wir zu unserer bewährten Furt zurückgehen und dort den Fluss erneut überqueren. Vor der Brücke befindet sich eine Grube mit Baggern. Die Baustelle wird von kläffenden, angeleinten Hunden bewacht. Ein Mensch ist nicht zu sehen. Die Brücke ist dann eine schmale Hängebrücke. Einige der Bretter sehen schon etwas vermodert aus, manche sind ersetzt, wenige fehlen ganz. Es passen keine zwei Leute nebeneinader und wir schicken immer Zweiergruppen mit ordentlich Abstand los. Es wackelt, knarzt und schaukelt, sie trägt uns aber sicher.
Jeder Versuch, Hilfe bei der Arbeit anzubieten, scheitert.
Zwei Tage später sind wir schon deutlich vertrauter mit dem Land und kommen zügig vorwärts. Inzwischen haben wir ein Ziel, die Kleinstadt Blaj. Durchqueren wir ein Dorf sind wir schnell umringt von freundlichen Dorfbewohnern. Wohin wir wollten, fragen sie auf Rumänisch und wir antworten »Blaj, Blaj«. »Da Blaj«, nicken sie und zeigen geradeaus, oder bedeuten uns, dass wir uns links halten sollen. Manchmal bekommen wir dann noch für jeden eine Tomate in die Hand gedrückt und werden einmal auch zu einem Kaffee eingeladen. In vielen Orten stehen einfach am Wegesrand Brunnen, aus denen wir Wasser schöpfen. In anderen stehen sie in den Innenhöfen der Häuser. Meist sind Frauen zu Hause und die lassen es sich dann nicht nehmen, eimerweise Wasser aus den Brunnen zu ziehen. Jeder Versuch, Hilfe bei der Arbeit anzubieten, scheitert.
Das Sommergewitter vom ersten Nachmittag bleibt für zwei Wochen der einzige Regenguss. Die Nächte sind daher klar und weil alles nur dünn besiedelt ist, der Mond gerade spät aufgeht und kaum Straßen beleuchtet sind, sehen wir abends einen unglaublich deutlichen, funkelnden, eindrücklichen Sternenhimmel. In der Siebenbürgischen Hügellandschaft dominiert Landwirtschaft das Erscheinungsbild. Morgens trifft man Männer, die mit Sensen auf den Schultern aufs Feld gehen, nachmittags kommen einem dann mit Heu oder Holz beladene Pferdewagen entgegen. Traktoren sind nur vereinzelt im Einsatz. An einem Morgen werden wir früh wach und reiben uns die Augen: Eine Kuhherde kommt langsam auf unsere Schlafsäcke zugetrottet. Irgendwann steht die erste Kuh wenige Meter vor uns. Ich stehe vorsichtshalber mal auf, damit sie nicht auf die Idee kommt über uns drüber zu laufen. Da eilt auch schon der Hirte herbei, schlägt einmal mit der Peitsche und die Herde zieht an uns vorbei den nebelumhangenen Hügel hinauf.
Vielleicht Bärenkratzer?
Die letzten Tage verbringen wir im Südzipfel der Karpaten. Dass der Bus, der angeblich dorthin fährt, nur an der zwölf Kilometer entfernten Straßenkreuzung hält, stört uns wenig. Außerhalb von Victoria schlagen wir an einer Wiese an einem Gebirgsbach unser Lager auf. Dass wir hier mehrere Tage bleiben, stört die Anwohner der nahen Wochenendhäuschen wenig. Bei einem Tagesausflug auf den höchsten rumänischen Gipfel finden wir mitten im Wald eine rot-weiß gestrichene Plastikschutzhütte. Von innen abschließbar. Von außen ist die Hütte ordentlich zerkratzt. Vielleicht Bärenkratzer? Vermutlich aber sind es die Spuren von anderen Wanderern, die wie wir den herumliegenden Metallschrott genutzt haben, um die Hütte zu erklettern. Dann sind wir auch schon auf der Heimfahrt. Zunächst werden wir vom Schulbus zum nächstgelegenen Bahnhof gefahren. Wir erleben noch einmal hautnah was es heißt, über die von Kratern übersähten Staubpisten zu brettern. Dann heißt es Zug fahren. Am Abend wollen wir in Alba Iulia in den Nachtzug einsteigen. Zwischendrin müssen wir einmal umsteigen. Für die Strecken von 50 bzw. 70 Kilometer brauchen wir 90 bzw. 120 Minuten.
Dann sitzen wir im Zug Richtung Heimat, bereiten uns auf hektische Grenzkontrollen vor und verlassen ein Fahrtenland, das einfacher, freundlicher und herzlicher kaum sein könnte.
Übrigens: Zwischendurch trafen wir drei Freunde vom Pfadfinderbund Boreas. Die haben sich dazu entschlossen, eine couragierte Entscheidung zu treffen – und gehen im kommenden Jahr in Rumänien auf Bundesfahrt.
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