Viele wissen es nicht, aber die Gattung der Lyrik holt uns wieder ein. In einem neuen Kleid möglicherweise: Viele moderne Lyriker_innen mögen auf die Reime – die vielen wohl auch zunächst in den Kopf kommen, wenn es um Gedichte geht – oder auf aufwendig ausgeklügelte Daktylen verzichten. Und ob Rap als Lyrik verstanden werden kann, um die Kategorie zu erweitern, ist ebenfalls diskutabel.
Es ist eine schöne Kunstform, die zu jedem Anlass konsumierbar und perfekt ist, um sich nicht nur eigene Sorgen von der Seele zu plaudern, sondern auch, um gemeinsam erlebte Momente mit wenigen Worten zu festigen. Denn dadurch, dass die Form eher kompakt ist, bedarf es für Außenstehende in manchen Fällen großer Interpretationsfreude, während der_die Verfasser_in sowie Eingeweihte den Hintergrund jedes Wortes kennen. Beides sind feine Ansichtsseiten!
Über Räumen liegen Orte, die
zu selten als Zimmer genutzt werden,
sich jedoch vortreffl ich
zum Sonnen und Moscheestaunen eignen.
Rost ist an Glanz geschraubt und
die türkise Kuppel goldblau verziert,
macht Auge mit SUPER HD.
Über Wellblech schiebt sie einen Gruß
mit lauem Novemberwind.
Von oben ist die Stadt fl ach.
Ein guter Tag für Spinatlasagne.
(skip, Laninger Wandervogel)
Oben ein paar Zeilen von meiner Fahrtenfreundin skip, die mich gleich in Erinnerungen an unser Lieblingsdach in Samarkand, die routinierten Stadtgerichte und zusammengepuzzelten Giebel und Stromkabel in der roten Sonne schwelgen lassen. Wie großartig, sich ein Souvenir selbst maßzuschneidern.
Auf Fahrt sehen wir viel, kommen mit neuen Umgebungen in Kontakt, bekommen vielleicht Berge in Farben zusehen, deren Existenz wir gar nicht kannten, oder entdecken plötzlich Gefühle, die vorher fremd waren. Ständig wird der Mensch mit Inspirationen konfrontiert, daran lässt sich gar nicht so viel ändern. Eine hübsche Voraussetzung, um sich darin zu probieren, diese in Worte zu verwandeln.
Hier ein paar Impulse, wie vielleicht auch eine ganze Fahrtengruppe zur Lyrikwerkstatt werden kann.
1. Die japanische Gedichtform des Haikus bietet immer einen guten Einstieg ins Gedichteschreiben. Dabei werden drei Zeilen gefunden, wobei die erste 5 Silben, die zweite 7 und die dritte wieder 5 trägt. Hier drei kleine Fahrtenhaikus, verfasst von einigen Jüngeren des Jungenbundes Phoenix.
Der Regen tropft laut
Dunkelheit umgibt uns nun
Das ist uns‘re Welt
Es ist kalt und nass
Schnee haben wir geschaufelt
Das Zelt steht eisern
Schlängelndes Steinband
Auen mäandern dir nach
Vögel kehren heim
(aus dem Jungenbund Phoenix)
2. Wenn ihr auf Großfahrt seid und ein Fremdwörterbuch dabei habt, schaut euch doch mal einige Seiten genauer an:
Karotte-Karpfen-Karre-Karte-Kartei-KartellKartenspiel-Kartoffel-Kartoffelbrei, Kartoffelkäfer, Kartoffelpuffer-Karton-Karussell-Karwoche-Käse-Kaserne
plädieren-Plage, plagen-Plakat-Plan-planen-planmäßig-Plan(t)schbecken-Plastik, Plastiktüte-platt, einen Platten haben, Platte, kalte Platte, Plattenspieler, Platteform-Platz
Schmiss, Schwung, Pfeffer, pfeffern, Pfefferminze-Kinderwagen-(be)merken, wahrnehmen, empfinden-Prozent, Provision, Wahrnehmung-Schlag, Erschütterungbestimmt, entschieden-vollkommen, vollendet
Allein manche Wortfolgen können schon kleine Gedichte und Geschichten ergeben. Auf meiner letzten Fahrt haben wir einige der Wortfolgen unserer Lieblingsseiten miteinander verknüpft. Heraus kommen in der Regel Quatschgedichte wie diese hier:
Oh, mein knöcherner Kater!
Du frisst mir aus dem Geldbeutel wie die Krabbe den Kohlkopf.
Welches Kopftuch trugst du, als du den Diebstahl im Museum, linksaußen tätigtest?
War der Hebekran von Nöten, um die Ölfarben der Kante nicht zu schädigen?
Was tut man nicht alles für die schöne Frau, die Katze mit der kurzen Frauenjacke?
Das äußerste Lieben – es sticht wie die hübsche Nessel.
(Flora, Stamm Alexander Lion)
3. Ebenfalls eine Idee für die Großfahrt: Schaut doch einmal im Vorhinein, ob ihr Gedichtsübersetzungen von Texten aus eurem Fahrtenland findet, die ihr in euer Liederbuch mit hineindrucken könnt. Das ist nicht nur eine schöne Ergänzung, deren Worte vielleicht auch im Laufe der Fahrt immer besser nachempfunden werden können, sondern auch praktisch, um selbst ins Schreiben zu kommen oder mal ein Gedicht während des Wanderns auswendig zu lernen, was in einer Gruppe für richtig Spaß sorgen kann. Dicke Empfehlung hierfür: lyrikline.org, wo Gedichte auf 87 Sprachen mitsamt Übersetzungen zu finden sind.
Die alte Tante isst meine Gaben,
dem Wolf bin ich diesmal nicht begegnet.
Zarte Blumen sind mein Spielzeug,
und meine Liebe – grenzenloser Boden.
Ein Leben lang hab ich raus gewollt.
Weißt du, was das bedeutet?
Das, meine Liebe, ist ein Gesetz der Natur.
Es weiht uns in die Dinge ein.
Ein Teil des estnischen Gedichts
»Eluaeg olen tahtnud õue / Ein Leben lang hab ich raus gewollt«
von Juhan Viiding
(übersetzt von Gisbert Jänicke)
Die Zeit während des Laufens eignet sich auch sonst hervorragend dafür, schonmal im Kopf feine Alliterationen aus dem Fahrtenalltag oder die besten Wortneuschöpfungen zu sammeln, um sie dann beim Absatteln oder auch erst nach der Fahrt zu verschriftlichen. Links die Spiegelsteine, rechts der Gugelhupfberg und über mir die muskulöse Wolke. Kommt Kühe, lasst uns in die Gedichte gehen!
4. Gemeinsames Gedichte lesen. Klingt wie in der Schule, aber im anderen Zusammensein und lockeren Rahmen, macht es vielleicht ja schon mehr Spaß, mit der eigenen Stimme zu experimentieren. Während in einer Meutenstunde Quatschtexte von Ringelnatz oder »Spiegelgedichte« aus Palindromen gelesen werden können, kann Mensch sich vor der Wochenendfahrt mit der Sippe auf der Seite des Verlages der Jugendbewegung (jugendbewegung.de) durch die »kohtenpostillen« klicken, um tusk und andere Weggefährt*innen gleich mit in die Kohte zu nehmen.
Summt der Regen am Abend ins Tal,
träumt mein Zelt von den Lommen.
Über den Strom, über Klippen und Rohr ist ihr Rufen gekommen.
Jäh aus Wind ein heiseres Liederbuch
und schrill im pfeifenden Wehen
rudern die Lommen der Dämmerung zu, nachtwärts, heim zu den Seen.
Schlaf, mein Zelt, wenn der Schlafregen fällt,
Elche ziehen ans Ufer.
Schlaf, mein Zelt, in der summenden Nacht, hör am Strande den Rufer.
Friedlos irrt in den Klippen der Schrei
und Wellen hör in den Steinen.
Wind saust im Zeltdach, und schwer ist der Schlaf. Hör die Mooswälder weinen.
(Walther Scherf (tejo))
Es braucht nicht viel, um eigens verfasste Verse ein »Gedicht« zu nennen, denn es soll in erster Linie darum gehen, den Spaß des schönen Wortes zu entdecken und Fahrtengedichte als Erinnerungsspeicher zu nutzen. Ich freue mich, vielleicht das ein oder andere von euch im nächsten haddak lesen zu können!
Mitreden!