Ein Tablett voller Kleinigkeiten, eine Zeitungsseite zum Abdecken, eine Uhr sowie Zettel und Stift – das Kim-Spiel ist vorbereitet. Es braucht nicht viel, um diesen wahren Klassiker aus dem Bereich der Gedächtnisspiele in der Pfadfinder- und Jugendarbeit an den Start zu bringen. Das Prinzip ist fix erklärt: Das Tablett wird abgedeckt und alle Spieler können sich die Objekte für eine oder zwei Minuten ansehen. Danach werden sie wieder verborgen. Nun versuchen alle, eine möglichst komplette Liste der Gegenstände aus dem Gedächtnis aufzuschreiben. Klingt simpel – einfach ist es jedoch nicht. Das erfährt auch Kimball »Kim« O’Hara, Held von Rudyard Kiplings gleichnamigen Abenteuerroman. Dabei ist das Spiel nicht die einzige Idee des Buches, die im Laufe der Zeit tiefe Spuren in der Jugendarbeit hinterlassen hat. Schließlich ist »Kim« nicht irgendeine wahllose Geschichte eines britischen Autors, dessen Name den meisten Lesern vor allem durch die Verbindung mit dem Dschungelbuch geläufig sein dürfte – nein, »Kim« gilt als einer der spannendsten und vielseitigsten Abenteuerromane für Jugendliche weit und breit.
Der eigentliche Inhalt des Buches ist dabei schnell zusammengefasst: Abenteuer? – Check! Spionage? – Check! Der Kontrast zwischen traditioneller und westlicher Kultur im Indien des 19. Jahrhunderts unter englischer Kolonialherrschaft? – Check, check, check! So lebt der irischstämmige Waisenjunge Kim alleine im Slum von Lahore (im heutigen Pakistan) und hält sich mit Betteln und Gelegenheitsarbeiten für den Pferdehändler Mahbub Ali über Wasser. Durch eine Reihe von Zufällen wird er unter englischen Fittichen zum Spion ausgebildet und in das »Große Spiel«, die geheimdienstlichen Machtkämpfe zwischen Russland und Großbritannien in Zentralasien verstrickt. Gleichzeitig lernt er einen Lama (tibetanischen Geistlichen) kennen, den er auf dessen Suche nach Erleuchtung in Form eines heiligen Flusses begleitet. Dieser Stoff macht für eine wilde Abenteuerreise durch das Indien des 19. Jahrhunderts. Kipling, der selber einige Jahre dort gelebt hat, nutzt das exotische Element der Handlung gekonnt aus, um eine farbenfrohe, lebendige Leinwand für die Geschichte zu erschaffen. So tummeln sich seine Charaktere in Slums und Eliteschulen, in vollgestopften Juwelierläden oder unter dem freien Himmel des Himalaja. Dabei wird die Beschreibung Indiens jedoch nie zum Selbstzweck, sondern funktioniert immer als passender und lebendiger Hintergrund, der die Story hält und weitertreibt. Der Hauptgrund aber, weshalb das Buch als Art literarisches Kryptonit auf jugendliche Leser wirkt, liegt in seinen ausgefeilten Figuren verborgen: Allen voran natürlich die Hauptfigur der Geschichte, Kimball O’Hara. Kim ist ein ausgekochtes Schlitzohr, ein Straßenkind, das sich dank (zumindest für den Leser) günstiger Umstände inmitten eines Spionagekrieges befindet und durch verschiedene Mentoren lernt, daran zu wachsen.
Wie ein indischer David Copperfield meistert er langsam alle Herausforderungen und macht Erfahrungen, die ihn heranreifen lassen und auch dem Leser nicht nur Abenteuer, sondern auch subtile Ratschläge für das Leben mitgeben.Dazu kommt, dass »Kim« einfach ein unheimlich spannendes Buch ist, das beim Schmökern gekonnt mitreißt und einen bis zum Ende nicht mehr loslässt. Rasante und actionlastige Passagen wechseln sich mit ruhigeren und introspektiveren Momenten ab. Der so geschaffene Rhythmus überfordert nicht, hält jedoch immer eine Grundspannung bei. So möchte man immer tiefer in die fantastische Welt von Kim eintauchen und legt das Buch oft nur mit Mühe beiseite.
Die englischen Ausgaben können völlig legal aus dem Internet heruntergeladen werden.
Dass »Kim« jedoch keineswegs ein Märchen aus 1001 Nacht ist, muss betont werden. Stattdessen ist es ein schillerndes und präzise inszeniertes Portrait der indischen Gesellschaft unter britischer Herrschaft. Dies kann beim Lesen jedoch auch zu einigem Erstaunen führen – schließlich ist der politische Blick auf die Geschehnisse keineswegs neutral. Kipling selber war, wie übrigens auch BiPi, ein brennender Verfechter des englischen Kolonialismus. So schlägt sich seine persönliche Sicht der Dinge eben auch in »Kim« nieder. Diese heutzutage eher ungewöhnliche Prägung soll jedoch niemanden davon abhalten, sich auf eine abenteuerliche Reise durch Indien einzulassen. »Kim« ist normalerweise verhältnismäßig günstig zu haben. Schließlich ist Kipling schon seit Jahren tot und das Urheberrecht an seinen Texte erloschen. Sprich: die englischen (!) Ausgaben können völlig legal aus dem Internet heruntergeladen werden. Wer jedoch nur ungern dass englische Original lesen oder »Kim« auf Fahrt mitnehmen möchte, der kann den Abenteuerroman in praktisch jeder gut sortierten Buchhandlung finden.
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