Der Hohe Meißner, ein Bergrücken nahe Kassel. Hier trafen sich im Oktober des Jahres 1913 Mitglieder jugendbewegter und lebensreformerischer Bünde und Studentengruppen. Geschätzte dreitausend. Eine solche Massenversammlung junger Menschen hatte es im Kaiserreich bis dahin noch nicht gegeben! Im Morgennebel waren sie zum Meißner angestiegen und verstreuten sich über den Berg. Die Zelte wurden aufgeschlagen und das gemeinsame Lager wurde mit Tänzen und Liedern, aber auch mit Reden und Kundgebungen begangen.
Das Treffen auf dem Hohen Meißner war ein Zeichen, eine Demonstration derer, die für ein Streben nach Selbstbestimmung, Lebensreform und Emanzipation der Kinder und jungen Erwachsenen ihres Landes eintraten. Ein Zeichen für die Geschlossenheit der neuen Jugendbewegung, ein »großes Fest der Jugend in deutlichem Gegensatz zu jenem von uns verworfenen Patriotismus«. Veranstalter und TeilnehmerInnen des Treffens fassten ihre Ziele in einer Formel (die sog. Meißnerformel von 1913) zusammen:
»Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. (…)«
Die Jugend sollte aus ihrer unbeteiligten Rolle in Abhängigkeit von Erwachsenen, Lehrern und Eltern ausbrechen. Die Art und Weise – wie Jugendliche ihr Leben führten – von der Jugend selbst bestimmt und gestaltet werden. Jugend? Jugendliche? Im Jahr 1913 waren diese Schlagworte neu und modern. Sie wurden auf Treffen wie dem Jugendtag mit definiert und entscheidend geprägt. Die Jugend als freibestimmte Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt. Die hoffnungsvolle Atmosphäre des Lagers, die Einigung auf die Meißnerformel, und das einzigartige Erlebnis der Veranstaltung wurde trotz – oder wegen? – vieler Diskussionen und Streitigkeiten, zu einem wichtigen Erfolg für die Masse der Wandervögel, Studentenschaft und LebensreformerInnen.
Das »Meißnererlebnis« wurde jedoch zu einer fast mythischen Erinnerung, einem Symbol der Jugendbewegung.
Das Treffen brachte zwar keine umfassende Einheit der Meinungen, das »Meißnererlebnis« wurde jedoch zu einer fast mythischen Erinnerung, einem Symbol der Jugendbewegung. Weitere Freideutsche Jugendtage sollten diesem ersten folgen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch, in dem viele Meißnerfahrer ab 1914 den Tod in Schlamm und Schützengräben fanden, zerstreute die Bewegung und verhinderte, dass die Ziele der Meißnerformel weiterentwickelt und verbreitet wurden.
Viele Elemente, die bereits 1913 erstmals von Jugendlichen formuliert wurden, gelten auch heute noch als zeitlose Richtungsweiser. Was bewegt Jugendliche und junge Erwachsene aus einer ganz anderen Zeit, sich an das große Meißnertreffen vor 99 Jahren zu erinnern?
Dieses Treffen 1913 war für die Teilnehmenden offenbar so einschneidend, dass sie es sich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder ins Gedächtnis riefen. Spätere Zusammenkünfte der Jugendbewegung auf dem Meißner waren zudem immer von den Wünschen, Zielen und Hoffnungen geprägt, die die jugendbewegten Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt beschäftigten und von den Erfahrungen, die sie in ihrer Zeit gemacht hatten. Neue Aspekte wurden wichtig, neue Ziele ins Auge gefasst.
So stand 1923, zehn Jahre später, das Meißnertreffen im Zeichen der Erinnerung. Es war den vielen gefallenen Wandervögeln des Ersten Weltkrieges gewidmet, die vielleicht zehn Jahre zuvor noch am selben Ort gewesen waren.
Das fünfzigjährige Jubiläumstreffen im Jahr 1963 fiel in ein Jahrzehnt, das mit den 68ern neue Diskussionen um Jugend und selbstbestimmes Leben brachte. Verschiedene Generationen trafen aufeinander: Hinter den älteren Teilnehmenden lag die NS-Zeit, mit der das Verbot aller Jugendbünde außer der Hitlerjugend einhergegangen war und die im Zweiten Weltkrieg ihre brutalen Höhepunkte hervorgebracht hatte. Nachdem sich viele Bünde nach dem Krieg wiedergegründet hatten, wollten Ältere die Gelegenheit nutzen, eine Art »Überlebenstreffen « zu veranstalten. Dagegen wehrte sich die jüngere Generation, deren Vertreter Bedenken vor Bevormundung und Einmischung der »Greise« hatten. Dennoch konnte man sich auch bei diesem Treffen auf eine gemeinsame Erklärung einigen. Die Selbstverpflichtung der jugendbewegten Bünde auf die Anerkennung des noch jungen demokratischen Rechtsstaates und ihre Positionierung darin standen im Mittelpunkt der Erklärung.
1988. In der Zeit nach dem Tschernobyl- Schock und der Friedensbewegung angesichts der Ängste des »Kalten Krieges« fand ein riesiges, buntes Meißnerlager mit zahlreichen überbündischen Projekten zur 75. Wiederkehr des Meißnertages 1913 statt. Wie große Teile der Gesellschaft fühlten sich auch die Jugendbünde verantwortlich dafür, einen bewussteren Umgang mit Mensch und Umwelt in einer modernen Zivilisation zu schaffen, um eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen (und formulierten das wiederum in einer Erklärung).
2013 ist es so weit. Im Oktober feiern Wandervögel und Freischar, Jungenschaften, Pfadfinder und viele andere Jugendbünde 100 Jahre Hoher Meißner. Die Vorbereitungen und großen Vortreffen sind bereits angelaufen, es braucht Zeit, um ein solch großes Lager organisieren zu können und mit Leben zu füllen. Dazu bereiten sich die Bünde in Regionalforen inhaltlich vor und setzen sich mit der Gestaltung des Lagers auseinander.
Ein so großes Lager von so vielen verschiedenen Gruppen stellt für alle eine Herausforderung dar. Doch es bietet die Chance, mitzuerleben und mitzubestimmen, wie jugendbewegte Bünde zur heutigen, globalisierten, hochtechnisierten Welt stehen und sich in ihr sehen. Und dazu, sich auf etwas einzulassen, über den Tellerrand zu blicken und uns als jugendbewegten Pfadfinderbund in einem riesigen Haufen vollkommen anderer Bünde zu erleben, zu bewegen und einzubringen. Am gleichen Ort, an dem sich Jugendliche schon vor hundert Jahren bewegt und eingebracht haben.
Mitreden!